Dass Sie einmal Analog-Astronautin wird, hätte Carmen Köhler nach der Schule nicht erträumen können.
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Nach den Sternen zu greifen, traute sie sich am Anfang nicht. Ein Studium der Mathematik schien für sie unerreichbar. Deshalb begann die gebürtige Berlinerin nach dem Abitur eine Friseurlehre. Inzwischen hat Carmen Köhler Mathematik und Meteorologie studiert und arbeitet zudem als Analog-Astronautin.

Ein Haarschnitt, der ihr Leben veränderte

Erst ein schicksalhafter Haarschnitt führte bei ihr zu einem Umdenken. Mit einem ihrer Kunden, einem Wirtschaftsprofessor, plauderte sie über Bücher. Ihr Lesestoff erstaunte ihn. Es war ein Buch über mathematische Beweise. Daraufhin motivierte der Professor sie zu einem naturwissenschaftlichen Studium. Das gab ihr den letzten Ruck, und sie begann nach dem Abschluss der Lehre Mathematik zu studieren.

Ihr Gesicht erhellt sich, die Gesten werden größer, und die Redegeschwindigkeit erhöht sich. Es geht um ihr Lieblingsthema: Meteorologie und Raumfahrt. In dialektfreiem Deutsch plaudert die 42-Jährige freudig drauflos.

Liebe zu Daten

Physik hatte sie in der Schule abgewählt. Niemals hätte sie gedacht, dass sie Jahre später in diesem Fach promovieren würde. Das Thema ihrer Doktorarbeit: Kondensstreifen und ihre Auswirkung auf das Wetter. Auch in ihrem jetzigen eigenen Daten- und IT-Unternehmen beschäftigt sie sich mit der Auswertung von Wetter- und Satellitendaten sowie der Programmierung der dazugehörigen Software.

Ihre Liebe zum Himmel lebt sie in ihrem jetzigen Berufsleben voll aus. Vor sieben Jahren wurde sie zusätzlich Analog-Astronautin. Wer ihre Vorbilder sind und wie es ist, einen Raumfahrtsanzug zu tragen, erzählt sie im STANDARD-Interview.

Carmen Köhlers erste Mission als Analog-Astronautin fand 2018 auf dem Kaunertaler Gletscher statt. Mit ihrem Kollegen testet sie, wie gut mit dem Anzug Proben genommen werden können. Auch die Geräte und Abläufe werden ausprobiert.
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STANDARD: Haben Sie ein Vorbild?

Köhler: Es gab zwei TV-Serien, die mich in der Kindheit sehr geprägt haben. Das eine war Raumschiff Enterprise und die zweite war MacGyver. In den Hauptdarsteller war ich zugegeben vielleicht auch ein wenig verknallt. Mich faszinierte, wie er mit wenig Mitteln alles geschafft hat. Kreativ, friedlich und pfiffig zugleich – so wollte ich auch werden. Und das am liebsten im Weltall.

STANDARD: Als Analog-Astronautin sind Sie sozusagen zu MacGyver geworden. Wie sehen die Marssimulationen aus?

Köhler: Wir bewegen uns in voller Montur im unwegsamen Gelände unserer Testorte wie Wüsten oder Gletscher und prüfen die Tauglichkeit der Raumfahrtsanzüge, des Equipments und die Durchführbarkeit der geplanten Experimente. Und wir testen die Maschinen und entnehmen Proben. Kniet man sich zum Beispiel in einem solchen Anzug auf den Boden, kann das Aufstehen schon mal schwerfallen. Wir simulieren auch den Zeitunterschied. Der Mars ist sehr weit weg: Um dorthin zu fliegen, bräuchte man circa sieben bis neun Monate. Deshalb kommt ein Kommunikationssignal auch rund zehn Minuten verzögert an. Stellen Sie sich vor, Sie haben bei der Expedition auf dem Mars ein Problem. Ihnen könnte erst Minuten später geholfen werden. Strategien für einen solchen Fall werden deswegen ebenfalls getestet. Ziel ist es, herauszufinden, wie Marsexpeditionen funktionieren und was dabei verbessert werden könnte. Wir sind somit die ausführenden Hände der Wissenschafterinnen. Deswegen ist die Voraussetzung, dass alle Analog-Astronauten einen Hintergrund in Naturwissenschaft, Ingenieurwesen oder Luftfahrt haben.

Auch in der Wüste Israels ist die Umgebung marsähnlich. Hier machen Carmen Köhler (hinten) und ihre Kollegin einen Testlauf.
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STANDARD: Wieso sind Raumfahrtanzüge eigentlich immer silbern?

Köhler: Das liegt an dem besonders strapazierfähigen Material. Die neuesten Anzüge haben allerdings einen neuen Anstrich bekommen: weiß, blau, rot und orange.

STANDARD: Wie fühlt es sich an, einen solchen Anzug zu tragen?

Köhler: Es dauert circa zwei Stunden, bis der 50-Kilo-Anzug angezogen ist. Die unterste Lage ist thermische Unterwäsche. Dann kommt das Exoskelett, um den Druckanzug nachzuempfinden, und darüber noch eine dritte Schicht. Das alles schränkt den Bewegungsradius stark ein. Mein Lieblingsmoment ist, wenn der Helm aufgesetzt wird. Die Geräusche von außen verstummen. Nur das Brummen der Ventilatoren im Rucksack ist zu hören. Die Sicht verschwimmt durch den leichten Fischaugeneffekt des Visiers. Als ich so in die Wüste hinaustrat, hatte ich das Gefühl, wirklich auf dem Mars zu sein.

STANDARD: Bei welchen Missionen waren Sie bereits dabei?

Köhler: 2015 waren wir zwei Wochen auf dem Kaunertaler Gletscher. Das war lustig, weil wir teils auch in touristischen Gegenden Testläufe machten und Zuschauende hatten. Ich erinnere mich gut an ein Foto: ich im Raumanzug, Arm in Arm mit einigen Frauen im Dirndl. Während der Pandemie waren wir noch einen Monat in Israel. Im Oman gefiel es mir am besten. Unser Camp war mitten in der Wüste. Alles rot-braun, unendliche Weite, nichts drumrum. Einen Monat lang waren wir dort zu fünfzehnt in Isolation.

Humor ist eine der wichtigsten Eigenschaften als Analog-Astronautin, meint Carmen Köhler.
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STANDARD: Welche Eigenschaften sind nötig, um das auszuhalten?

Köhler: Konfliktbereitschaft und Humor. Gerade wenn es anstrengend wird. Über sich lachen zu können oder mit anderen zu scherzen macht alles leichter. Mit meinen Kolleginnen und Kollegen lachte ich sehr viel. Mit dieser Bagage würde ich jeden Tag zum Mars fliegen.

STANDARD: Haben Sie jetzt als Analog-Astronautin bessere Chancen, echte Astronautin zu werden und ins Weltall fliegen zu dürfen?

Köhler: Nein. Wenn, dann wohl nur touristisch. Aber um das zu können, sind wir abhängig von Menschen wie Elon Musk. Denn solche Unterfangen sind ausgesprochen teuer.

STANDARD: Und klimaschädlich. Können Sie eine so CO2-intensive Branche guten Gewissens unterstützen? Vor allem da Sie nach Ihrem Doktorat beim Deutschen Wetterdienst zu erneuerbaren Energien forschten.

Köhler: Weltraumtourismus sehe ich auch kritisch. Bei wissenschaftlichen Missionen sehe ich das anders. Denn die Ergebnisse der Forschung im Weltall dienen auch dazu, unser Wissen und unser Leben auf der Erde zu verbessern.

Besonders wird auch die Interaktion zwischen Mensch und Maschine getestet.
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STANDARD: Bisher gibt es Missionen zum Mars ja nur in Filmen. Gibt es welche, die realistisch sind?

Köhler: Gravity gefiel mir gut. Denn auch in Wirklichkeit verlor man über eine chinesische Raumstation plötzlich die Kontrolle, und sie flog ungesteuert im Weltall.

STANDARD: Ist Ihr zweiter Kindheitstraum, ins All zu fliegen, schon wahr geworden?

Köhler: Leider nein. Ich habe immer noch eine große Mondsehnsucht. (Natascha Ickert, 28.1.2023)