Proteste gab es auch in Marseille.

Foto: AFP/NICOLAS TUCAT

Zwei Wochen nach dem ersten Protesttag waren am Dienstag weite Teile des französischen Wirtschaftslebens gelähmt. Nahzüge verkehrten kaum, während TGV-Verbindungen und Flüge etwas weniger betroffen waren. Schulen und Verwaltungen wurden bestreikt; erstmals blieben einzelne Rathäuser ganz geschlossen.

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DER STANDARD

Demonstrationen in 250 französischen Städten vereinigten wohl erneut mehr als eine Million Teilnehmer. Auch wenn die Zahlenangaben von Polizei, Medien und Gewerkschaften oft um das Zehnfache auseinanderlagen, war klar, dass die Mobilisierung massiv bleibt. Sprechchöre skandierten Parolen gegen die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre und verlangten den Rückzug der Reform. Gewerkschafter und Linkspolitiker kritisierten die Reform als «sozial ungerecht». Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron bestreitet dies mit dem Argument, sie erhöhe die Mindestrente von 960 Euro auf 1.200 Euro im Monat.

Frauen besonders stark benachteiligt

Der Vorsteher der Gewerkschaft CGT, Philippe Martinez, meinte dagegen am Dienstag im TV-Sender RMC, das Reformprojekt benachteilige generell die schlechter Verdienenden, die meist schon in jungen Jahren in die Arbeitswelt eingestiegen seien. Leidtragende seien auch die Frauen, die häufiger als andere auf eine "zerstückelte Karriere" zurückblickten und deshalb keine Vollrente erhielten. Wegen ihrer Kinder, aber auch aus anderen Gründen kämen sie seltener als Männer auf die neu verlangte Beitragsdauer von 43 Jahren.

Unabhängigen Berechnungen zufolge müssen Frauen infolge der Erhöhung des Rentenalters effektiv zwei Jahre länger arbeiten, Männer dagegen nur anderthalb Jahre länger, um in den Genuss einer Vollrente zu kommen.

Macron hält sich zurück

Premierministerin Élisabeth Borne versucht gegenzusteuern: "Im Gegenteil, wir beschützen die Frauen, die nicht regelmäßig einbezahlt haben, die schon früh gearbeitet haben oder die eine kleine Pension beziehen." So erhielten Frauen einen Rentenbonus von bis zu zwei Jahren, wenn sie Kinder großgezogen hätten. Die neue Minimalrente von 1.200 Euro im Monat komme zudem mehrheitlich – zu 60 Prozent – Frauen zugute, behauptet Borne, die für Macron die Kohlen aus dem Feuer holen soll, weil sich der unpopuläre Staatspräsident bei seiner eigenen Reform bewusst zurückhält.

Die Regierungsangaben werden von den Gewerkschaften in Abrede gestellt. Ungeschickterweise räumte Macrons Parlamentsminister Franck Riester selbst ein, Frauen würden in der Reform "ein wenig benachteiligt". Auch die konservative Zeitung "Le Figaro" rechnete vor, dass der Kinderbonus für Familienmütter durch die Rentenreform tendenziell sinke.

Spezialkonditionen möglich

Borne bestreitet dies vehement. Gegen den allgemeinen Eindruck, dass Frauen von der Reform härter getroffen seien, kommt sie allerdings nicht an. Sie erklärt sich deshalb bereit, über Spezialkonditionen für Mütter und für Frauen mit unterbrochenen Karrieren zu sprechen. Die Wirkung der Reform für erwerbstätige Frauen wird damit zu einem Verhandlungsargument – und zur vielleicht letzten Hintertür für Konzessionen der Regierung. Das Rentenalter 64 ist laut Borne aber "nicht verhandelbar".

Ob die Premierministerin damit ab nächstem Montag durch die mehrwöchige Parlamentsdebatte kommt, muss sich weisen. 1995 war Premier Alain Juppé mit seiner Rentenreform am Widerstand der Straße gescheitert; 2010 brachte Präsident Nicolas Sarkozy das neue Rentenalter 62 jedoch gegen mehrere Großdemonstrationen durch.

Derzeit ist der Ausgang offen. Die breite Protestfront von links bis rechts außen wirkt allerdings sehr entschlossen und in der Bevölkerung verankert. Wenn sich Macron durchsetzen will, wird er an seiner Reform noch etliche Abstriche vornehmen müssen. Die Frage der Frauenrenten könnte dabei eine wichtige Rolle spielen. Für den 7. und 11. Februar beschlossen die Gewerkschaften am Dienstag zwei weitere Streiktage. (Stefan Brändle aus Paris, 31.1.2023)