Nach einem kurzen Einbruch durch die Corona-Pandemie kam die Wirtschaft Indiens schnell wieder in die Spur. Auch im Vorjahr, als die Weltkonjunktur bereits ins Stottern geriet, wurden stattliche sieben Prozent Wachstum erzielt, bis Anfang des neuen Jahres ein mutmaßlicher Bilanzskandal in dem 1,4 Milliarden Menschen zählenden Land publik wurde. Die Vorwürfe erschüttern das Konglomerat des indischen Milliardärs Gautam Adani – und damit auch die Erfolgsstory Indiens.

Frage: Vor einigen Tagen sorgte der Aktiencrash des indischen Mischkonzerns Adani Enterprises über Indiens Finanzwelt hinaus für Aufregung. Was ist das Problem?

Aktivisten der indischen Jugendkongresspartei fordern dringend eine Untersuchung des mutmaßlichen Bilanzbetrugs bei den Unternehmen des Milliardärs Gautam Adani.
Foto: AFP / Sajjad Hussain

Antwort: Hinter dem indischen Firmenimperium steht der Multimilliardär Gautam Adani, zwischenzeitlich reichster Mann Asiens. Diesen Titel hat Adani wegen eines drastischen Wertverlusts seines Konglomerats jüngst verloren. Die Aktien des Mischkonzerns Adani Enterprises sackten Ende vergangener Woche um gut ein Drittel ab, das Unternehmen büßte innerhalb von einer Woche umgerechnet rund 36 Milliarden Euro an Marktkapitalisierung ein. Bei sämtlichen Unternehmen des Konglomerats summierte sich der Wertverlust auf mehr als 100 Milliarden Euro – mehr als die Hälfte des einstigen Börsenwerts der Gruppe.

Frage: Warum hat sich die Aktie der Adani Enterprises am Dienstag wieder erholt?

Antwort: Die vorzeitige Rückzahlung eines Kredits durch Gautam Adani hat Investoren am indischen Aktienmarkt etwas beruhigt. Adani und seine Familie zahlten laut einer aktuellen Mitteilung gut 1,1 Milliarden US-Dollar zurück, die eigentlich erst im September 2024 fällig geworden wären. Zuvor hatten sich erhebliche Sorgen breitgemacht, dass Adani nur noch begrenzt Zugang zu frischen Finanzmitteln habe.

Frage: Was führte zu dem Aktiencrash?

Antwort: Am 24. Jänner ging der Hedgefonds Hindenburg Research mit einem Bericht an die Öffentlichkeit, der es in sich hatte. Der US-Investor warf dem Konglomerat Marktmanipulation und Bilanzbetrug vor, hohe Verschuldung und Verschleierung der Finanzströme durch ein Netz aus Briefkastenfirmen – Behauptungen, die Adani wiederholt bestritten hat.

Frage: Was ist die Absicht von Hindenburg?

Antwort: Hindenburg Research ist eine kleine, aber bekannte Investmentfirma mit einem spezifischen Geschäftsmodell: Sie tritt als Leerverkäuferin von Aktien auf – setzt also auf sinkende Kurse. Ziel ist es, Unregelmäßigkeiten in Unternehmen aufzuspüren, um dann von den fallenden Kursen infolge mutmaßlicher Missstände zu profitieren.

Frage: Gibt es Ähnlichkeiten zum Wirecard-Skandal?

Antwort: Tatsächlich wurden auch die Unregelmäßigkeiten in den Bilanzen von Wirecard von Hedgefonds, die auf fallende Kurse bei dem deutschen Finanzdienstleister setzten, sowie dem britischen Finanzjournalisten Dan McCrum aufgedeckt. Ob es bei Adani wie bei Wirecard zu Insolvenzen und strafrechtlichen Verfahren kommen wird, ist freilich noch offen.

Frage: Und wer ist Gautam Adani?

Antwort: Der 60-jährige Selfmade-Milliardär wurde in Ahmedabad im westindischen Bundesstaat Gujarat geboren und gehörte der indischen Mittelschicht an, als er sich sukzessive hocharbeitete. Adani begann mit dem Handel von Rohstoffen. Mit Mitte 20 gründete er die Adani-Gruppe, heute umfasst sein Riesenreich Häfen, Flughäfen, Minen, Speiseöl-, Zement-, Energieerzeugung und Medien. Mehrere Unternehmen der Gruppe sind börsennotiert, allen voran Adani Enterprises. Die Opposition hat Adani und anderen Superreichen mehrfach vorgeworfen, von der indischen Regierung unter Premierminister Narendra Modi bevorzugt zu werden. Adani bestreitet auch das.

Auch die indische Regierung unter Premierminister Narendra Modi gerät ins Visier der Kritiker. Die Opposition hat Adani und anderen Superreichen mehrfach vorgeworfen, von der indischen Regierung bevorzugt zu werden.
Foto: REUTERS/Adnan Abidi

Frage: Adanis Unternehmensreich ist in Indien angesiedelt. Warum ist die Aufregung so groß?

Antwort: Befürchtet wird, dass die Turbulenzen beim Konzern auf das indische Finanzsystem, ja die gesamte indische Wirtschaft durchschlagen könnten, denn das Adani-Imperium ist mit der indischen Wirtschaft eng verflochten. Allein mit den Flughäfen ist Adani nach Konzernangaben für ein Drittel von Indiens Luftfracht verantwortlich, die Häfen stehen für ein Viertel der Lieferkapazitäten auf dem Wasser, und Adani ist einer der größeren Kohleproduzenten des Landes. Probleme der einzelnen Unternehmen würden in Indiens Wirtschaft Wellen schlagen. Aber nicht nur das. Hindenburg hatte in dem kritischen Bericht unter anderem vor Gefahren für Gläubiger aufgrund der Verschuldung des Konzerns gewarnt.

Frage: Wer sind diese Gläubiger?

Antwort: Vergangenes Jahr ist Adani ins Zementgeschäft eingestiegen und erwarb um gut zehn Milliarden US-Dollar zwei Hersteller, die bis dahin vom Schweizer Konzern Holcim kontrolliert wurden. Unterstützt wurde der Zukauf bei der Finanzierung laut Handelsblatt von einem Bankenkonsortium, zu dem die Deutsche Bank und die britische Barclays und Standard Chartered gehörten. Der französische Energieriese Total Energies investierte demnach Milliarden in die Adani-Töchter Total Gas und Green Energy. Das Risiko bezeichnete Total Energies als überschaubar. Laut Analysten des Vermögensverwalters CSLA stehen zudem rund 40 Prozent der Adani-Schulden in den Büchern indischer Banken. Die indische Zentralbank bescheinigte dem Sektor allerdings Widerstandsfähigkeit und Stabilität.

Frage: Welche Auswirkungen kann der Fall Adani für die indische Wirtschaft haben?

Antwort: Die Wachstumsstory Indiens – in den vergangenen fünf Jahren hat die Börse in Mumbai 80 Prozent zugelegt – hat durch Adani einen tiefen Kratzer abbekommen. Lässt er doch die Schwellenländerrisiken Indiens wieder aufkeimen, die Stimmung unter den Geldgebern droht zu drehen. (Regina Bruckner, Alexander Hahn, 8.2.2023)