"Leere Worthülsen werden nicht ausreichen", so Bundeskanzler Nehammer.

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Wien/Brüssel/Berlin – Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) will die Debatte um die Flüchtlingspolitik in der EU am Köcheln halten. Er droht damit, die gemeinsame Abschlusserklärung der EU-Staats- und -Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen in dieser Woche zu blockieren, falls keine konkreten Vereinbarungen zu Migrationsfragen erzielt werden. "Leere Worthülsen werden nicht ausreichen", sagte Nehammer der "Welt".

"Es braucht endlich ein klares und deutliches Bekenntnis zur Verstärkung des Außengrenzschutzes und zum Einsatz entsprechender finanzieller Mittel aus dem EU-Budget dafür", forderte Nehammer. Es müssten "konkrete Schritte" erfolgen. Sollte dies ausbleiben, dann werde Österreich die Abschlusserklärung des EU-Gipfels "nicht mittragen können", so der konservative Regierungschef.

Österreich und sieben weitere EU-Staaten hätten deshalb vor dem Sondergipfel zu Migration in einem gemeinsamen Brief mehr EU-finanzierte Maßnahmen zum Außengrenzschutz, raschere Abschiebungen sowie neue Rückführungsabkommen mit Drittstaaten gefordert. Das Schreiben erging an EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel. "Einige Mitgliedsstaaten haben gleich viele oder mehr Ankünfte und Anträge als während der Migrationskrise in den Jahren 2015 und 2016", heißt es in dem Brief, den neben Nehammer auch die Regierungschefs und Premierministerinnen von Dänemark, Griechenland, Lettland, der Slowakei, Malta, Estland und der litauische Präsident Gitanas Nausėda unterzeichnet haben.

"Rechtlich unmöglich"

In einer anderen Frage gibt es allerdings einen Rückschlag für den Kanzler: Vorige Woche hatte er mit der Idee aufhorchen lassen, die EU brauche eine "Zurückweisungsrichtlinie", durch die Menschen ohne Aussicht auf Asyl direkt an der Grenze abgeschoben werden können. Allerdings: Eine solche Richtlinie wäre rechtlich schlicht unmöglich, sind sich viele Experten einig. Sie stelle eine "eklatante Verletzung des Flüchtlingsrechts" dar, kommentiert etwa das Büro des Uno-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) in Wien.

Ganz neu ist der Vorschlag der sogenannten Zurückweisungsrichtlinie nicht. Sie ist Teil eines Fünf-Punkte-Plans, den Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) bereits Ende November präsentiert hatte. Zwei Monate später, während eines Besuches in Bulgarien Ende Jänner, wiederholte Karner gemeinsam mit Kanzler Nehammer die Forderung. Die EU-Kommission solle prüfen, wie es rechtlich möglich wäre, sich Einzelfallprüfungen bei jenen Schutzsuchenden zu ersparen, "die praktisch keine Chance auf Asyl haben". Umgekehrt habe man es ja auch für die Ukrainer geschafft, innerhalb weniger Tage die Vertriebenenrichtlinie in Kraft zu setzen, erklärte Karner.

Zurückweisung widerspricht Menschenrechtskonvention

Diese pauschale Zurückweisung von asylsuchenden Personen würde aus Sicht des UNHCR gegen Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der Antifolterkonvention sowie der EU-Grundrechtecharta verstoßen, hieß es aus dem UNHCR-Büro in Wien gegenüber der APA. Auch Walter Obwexer, Experte für Europa-und Völkerrecht an der Universität Innsbruck, hob gegenüber dem Nachrichtenmagazin "Profil" die Unvereinbarkeit des Vorschlags mit den EU-Grundrechten hervor. Der Verfassungsexperte Bernd-Christian Funk ortete im Gespräch mit dem STANDARD ebenfalls einen Verstoß gegen die GFK.

Ein Kernprinzip der Genfer Flüchtlingskonvention – zu deren Einhaltung sich die Europäische Union und alle Mitgliedsstaaten verpflichtet haben – ist das Verbot, einen Flüchtling in ein Land zurückzuweisen, in dem er oder sie Verfolgung oder eine weitere Zurückweisung fürchten muss (Non-Refoulement). Um dies feststellen zu können, ist es aber nötig, jeden einzelnen Asylantrag zu prüfen.

"Die Einzelfallprüfung für alle Asylsuchenden ist ein Eckpfeiler des Flüchtlingsschutzes. Pauschale Zurückweisungen von Menschen etwa aufgrund ihrer Nationalität, ohne jegliches Asylverfahren, können Leben gefährden", warnte Christoph Pinter, Leiter von UNHCR Österreich, in einem Statement für die APA. Zurückweisungen ohne Prüfung des Asylantrags würden einem Pushback gleichkommen, so Pinter.

Auch vom Europasprecher der Grünen, Michel Reimon, gibt es dazu klare Worte auf Twitter: "Es wird keine EU-Rückführungsrichtlinie geben, die gegen die Menschenrechtskonvention verstößt und kein Herumdeuteln dran." Dies hätten die Grünen der ÖVP klar gesagt. "Der Kanzler inszeniert das als VP-Chef vor dem EU-Gipfel wieder als seine Forderung, weil er auf dem freiheitlichen Spielfeld spielen will."

Individuelle Prüfung "lebenswichtig"

Betreffen würde die EU-Zurückweisungsrichtlinie laut Innenminister Karner hauptsächlich Angehörige sicherer Drittstaaten wie Marokko, Tunesien oder Indien. Zwar sind die Chancen auf Asyl für Menschen aus diesen Ländern tatsächlich äußerst gering, freilich gibt es aber auch Ausnahmen, wie ein Blick auf die Asylstatistik 2022 zeigt. So erhielten im vergangenen Jahr 13 Personen aus Marokko, zwei Personen aus Tunesien und eine Person aus Indien Schutz in Österreich. Für diese in ihren Ländern politisch oder religiös verfolgten Menschen war die individuelle Prüfung ihres Asylantrags "lebenswichtig", argumentiert das UNHCR. (APA, red, 8.2.2023)