Das eisige Wetter erschwert die Rettungsarbeiten nach dem Erdbeben.

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Ankara/Gaziantep/Idlib –Nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet will die in der Türkei verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorläufig alle "Operationen" im Land einstellen. "Stoppt die Operationen in den Städten in der Türkei. Wir haben entschieden, keine Operationen auszuführen, solange uns der türkische Staat nicht angreift", zitierte die der PKK nahestehende Nachrichtenagentur Firat in der Nacht zum Freitag den PKK-Führer Cemil Bayık.

16-Jährige wie durch Wunder gerettet

Inmitten der unvorstellbaren Verzweiflung im Erdbebengebiet, in dem die Gesamtzahl der Opfer auf inzwischen bereits mehr als 22.000 Tote angestiegen ist, hat die Rettung eines 16-jährigen Mädchens für einen Hoffnungsschimmer gesorgt. Mehr als 80 Stunden nach der Katastrophe konnten Helfer, die in der Nacht zum Freitag überall im Unglücksgebiet weiter nach möglichen Überlebenden suchten, im stark verwüsteten Antakya im Süden der Türkei die Jugendliche Melda Adtas aus einem eingestürzten Gebäude retten.

Helfer bergen das 16-jährige Mädchen.
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Eigentlich gelten 72 Stunden als die Zeitgrenze, nach der bei einer derartigen Katastrophe nicht mehr mit Überlebenden unter den Schuttbergen zu rechnen ist. Als Melda dann trotzdem aus den Trümmern gerettet wurde, war der Jubel in der ansonsten von blanker Not überwältigten Stadt riesig.

Das Baby, das unter Trümmern zur Welt gekommen ist, ist vorerst in der Obhut seines Arztes. "Meine Frau stillt die kleine Aja", sagte der behandelnde Mediziner und Krankenhausleiter Attija Chalid der Deutschen Presse-Agentur am Freitag. "Meine Priorität ist erstmal, dass sie gesund wird." Bisher sei unklar, wer das Kind später aufnehmen werde. Es habe Anfragen von entfernten Verwandten gegeben, konkret sei aber noch nichts.

Politisch schwierige Situation

Tausende mehr werden befürchtet. Erschwert werden die Rettungsarbeiten durch das eisige Wetter, welches auch die Gesundheit von Überlebenden gefährdet, die in notdürftigen Unterkünften oder gar im Freien ausharren müssen.

DER STANDARD

Die internationale Hilfe kommt inzwischen immer mehr in Schwung. Die Weltbank sagte der Türkei 1,78 Milliarden Dollar (rund 1,66 Milliarden Euro) zu. Die USA kündigten ihrerseits ein erstes Hilfspaket in Höhe von 85 Millionen Dollar für die Türkei und Syrien an. Es gehe nun vor allem um Nahrungsmittel, Unterkünfte und medizinische Notversorgung. Damit die Erdbebenhilfe für das vom Bürgerkrieg zerrüttete Syrien trotz der Sanktionen gegen Machthaber Baschar al-Assad möglich ist, erlaubte das US-Finanzministerium für eine Dauer von 180 Tagen alle entsprechenden Transaktionen.

Die Hilfslieferungen werden durch die zerstörte Infrastruktur und die ungünstigen Witterungsbedingungen erschwert. In Syrien kommt die politisch schwierige Situation hinzu: Das Katastrophengebiet in dem Bürgerkriegsland ist in von Damaskus kontrollierte Gebiete und Territorien unter der Kontrolle regierungsfeindlicher und überwiegend islamistischer Milizen geteilt. Unterdessen ist Assad nach offiziellen Angaben ins Erdbebengebiet gereist. Der Präsident und seine Frau Asma besuchten am Freitag in einer Klinik in Aleppo Opfer des Erdbebens

Keine Ausrüstung für Bergungsarbeiten

Im von oppositionellen Kämpfern kontrollierten Nordwesten Syriens traf am Donnerstag der erste Hilfskonvoi seit dem Beben ein, wie ein syrischer Grenzbeamter mitteilte. Ein Korrespondent der Nachrichtenagentur AFP sah, wie sechs Lastwagen, die unter anderem mit Zelten und Hygieneartikeln beladen waren, den Grenzübergang Bab al-Hawa passierten.

Laut dem syrischen Grenzbeamten Masen Allusch handelte es sich aber um Hilfsgüter, die bereits vor dem Erdbeben für Syrien bestimmt waren. Die in der Region tätige Hilfsorganisation der Weißhelme zeigte sich enttäuscht, dass es sich um "routinemäßige" Hilfe handle und keine Ausrüstung für Bergungsarbeiten nach dem Beben.

Im Nordwesten Syriens ist nach Angaben Weißhelme bis Freitag keine humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen (UN) für die Erdbebenopfer eingetroffen. Der Chef der Weißhelme, Raed Al-Saleh, machte den UN schwere Vorwürfe und appellierte an Regierungen in aller Welt, direkte Hilfe außerhalb der UN zu organisieren. "Die Vereinten Nationen sind auf der Seite der Regierung, nicht der Menschen", sagte Al-Saleh nach Angaben eines Übersetzers.

Caritas verstärkt Nothilfe

Die Caritas hat die Nothilfe in den Katastrophengebieten indes verstärkt. Das Bundesheer ist weiter im Einsatz in der schwer betroffenen Provinz Hatay. "Auch wenn die Chancen geringer werden, wir suchen weiter und geben die Hoffnung nicht auf", sagte Einsatzleiter Bernhard Lindenberg.

Seit Dienstag sind mehr als 80 Rettungskräfte des Bundesheeres mit 45 Tonnen Equipment im Erdgeben-Gebiet in Antakya. Neun Menschen konnten durch die Spezialisten bisher aus den Trümmern befreit werden. Am Donnerstagabend konnten sie einen Mann aus einem Hohlraum bergen, in der Nacht auf Freitag wurde eine Familie mit einer Frau, zwei Männern und zwei Kinder aus einem verschütteten Verbindungsgang gerettet, in Zusammenarbeit mit lokalen Hilfskräften.

EU-Geberkonferenz für Syrien und die Türkei

Zur Unterstützung der Hilfsaktionen in Syrien – aber offenbar auch, um ein Zeichen zu setzen – reiste die Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in das Bürgerkriegsland. "Ich bin heute Abend mit trauerndem Herzen in Aleppo in Syrien eingetroffen", erklärte Mirjana Spoljaric am Donnerstagabend auf Twitter. Kurz zuvor hatte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, mitgeteilt, dass er "auf dem Weg nach Syrien" sei. Die UN kündigten an, dass ihr Nothilfekoordinator Martin Griffiths an diesem Wochenende in die Erdbebengebiete in der Türkei und Syrien reisen werde.

Die EU will Anfang März eine Geberkonferenz für Syrien und die Türkei abhalten. In einem Schreiben an Präsident Recep Tayyip Erdoğan sicherten die EU-Staats- und Regierungschefs während ihres Gipfels in Brüssel der Türkei zu, ihre Unterstützung zu verstärken. (APA, red, 10.2.2023)