Eingestürzte Häuser wie in Kahramanmaraş sorgen für Festnahmen in der Türkei.

Foto: AFP/OZAN KOSE

Nachdem die erste Phase der unmittelbaren Rettung von Verschütteten nun weitgehend abgeschlossen ist und am Montag bereits über 37.000 Tote gezählt wurden, richtet sich das Interesse in der Türkei mehr und mehr darauf, mögliche Verantwortliche für das Ausmaß der Katastrophe ausfindig zu machen. Eine erste Adresse dafür sind Bauunternehmen. Vor allem ein Mann ist im Moment das Gesicht für den tödlichen Pfusch am Bau: Mehmet Yaşar Coşkun.

Der Unternehmer ist Bauherr einer erst kürzlich eröffneten angeblich völlig erdbebensicheren Luxusanlage in Antakya in Hatay, die durch das Beben komplett zerstört wurde. Er wurde am Wochenende am Flughafen festgenommen, als er sich ins Ausland absetzen wollte.

Coşkun ist nicht der Einzige, weitere zwei Bauunternehmer, die nach Georgien flüchten wollten, wurden ebenfalls festgenommen. Darüber hinaus ermitteln Staatsanwaltschaften im ganzen Land gegen mehr als 100 Verantwortliche. Nach Plünderungen im Erdbebengebiet sind in der Türkei zudem Haftbefehle gegen 97 Menschen erlassen worden.

Pfusch einer der Hauptgründe

Tatsächlich zeigt sich eine Woche nach dem Erdbeben immer deutlicher, dass Pfusch am Bau sicher einer der Hauptgründe war, warum aus der Naturkatastrophe eine solche Tragödie für das ganze Land wurde. In vielen betroffenen Städten ist zu sehen, dass neben völlig zerstörten Häusern andere das Beben ohne große Schäden überstanden haben. "Ein Haus liegt völlig in Trümmern, im Haus daneben sind noch nicht einmal die Fensterscheiben kaputtgegangen", berichtete ein Beobachter aus dem Katastrophengebiet dem STANDARD.

Das dürfte aber nicht nur an den Bauunternehmern gelegen haben, sondern genauso an den zuständigen Bürokraten, die Projekte genehmigen und am Ende auch abnehmen. Viele Betroffenen berichten, dass in Gegenden, wo nur vierstöckig gebaut werden darf, Bauunternehmer mit Kontakten zur Regierung regelmäßig sechs Stockwerke hoch bauen durften. Diese Häuser sind nun zusammengebrochen.

Kritik von der Opposition

Die Opposition hat sich diese Kritik zu eigen gemacht. CHP-Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu, möglicher Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei den kommenden Wahlen, hat die Parole ausgegeben: "Der Staat ist unter dem Schutt begraben worden, wir müssen ihn nun wieder neu aufbauen."

Allerdings ist zurzeit völlig unklar, ob der Wahltermin am 14. Mai tatsächlich halten wird. Erdoğan hat sich noch nicht dazu geäußert, sondern wartet erst einmal ab, wie sich die Stimmung in der Bevölkerung entwickelt. Die Opposition will, dass der Wahltermin beibehalten wird, und hat schon einmal vorsorglich darauf aufmerksam gemacht, dass laut Verfassung die Wahl nur im Kriegsfall verschoben werden darf. Sollte Erdoğan dennoch versuchen, die Wahl auszusetzen, will man vor das Verfassungsgericht ziehen.

Ärzte ohne Genehmigung

Davon unbenommen, ist die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung nach wie vor überwältigend. Nicht nur Lebensmittel und Zelte werden privat in das Katastrophengebiet gebracht, auch viele Ärzte und Ärztinnen wollen vor Ort helfen. Bereits unmittelbar nach dem Beben hatten sich tausende Mediziner auf den Weg gemacht, wurden aber zunächst zurückgewiesen, weil sie keine Genehmigung von den Provinzbehörden hatten, um vor Ort tätig zu werden. Mit tagelanger Verzögerung werden sie jetzt zentral in Ankara registriert.

Auch die Armee ist nach langer Abwesenheit in vielen Städten aufgetaucht. Allerdings nicht, um im Schutt nach Opfern zu suchen, sondern um schwerbewaffnet mögliche Plünderer abzuschrecken.

Assad bittet Uno um Hilfe beim Wiederaufbau

Der syrische Machthaber Bashar al-Assad hofft indes nach dem verheerenden Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion auf internationale Hilfe beim Wiederaufbau des Landes. Assad habe in einem Gespräch mit dem Uno-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Montag "die Bedeutung internationaler Bemühungen" hinsichtlich der Hilfe bei der "Wiederherstellung der Infrastruktur in Syrien" betont, hieß es in einer von der syrischen Präsidentschaft veröffentlichten Erklärung.

Griffiths traf sich auch mit dem syrischen Außenminister Faisal Mekdad. Zuvor hatte er Aleppo besucht, wo mehr als 200.000 Menschen durch das Beben vor einer Woche obdachlos geworden sind. Reportern vor Ort sagte er, die Uno wolle Geld für die Organisationen sammeln, die Syrien bei der Bewältigung der Folgen des Erdbebens helfen. Die Spendenaufrufe für Syrien und die Türkei würden in den nächsten Tagen erfolgen, sagte Griffiths.

Die Rettungsorganisation Weißhelme, die im Nordwesten Syriens nach Opfern der Erdbeben-Katastrophe sucht, hat unterdessen eine einwöchige Trauer ausgerufen. Das deutet darauf hin, dass die Zivilschützer wohl nicht mehr davon ausgehen, unter den Trümmern noch Überlebende zu finden. Ab Montag würden ihre Flaggen auf halbmast stehen, schrieb die Organisation bei Twitter. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, red, APA, 13.2.2023)