Recep Tayyip Erdoğan mag derzeit ein Déjà-vu unter umgekehrten Vorzeichen haben: den Aufstieg eines Politikers, der durch ein Erdbeben beschleunigt wurde, das eklatantes Staats- und Behördenversagen offenlegte. Die Regierungspartei stürzte ab.

Der profitierende Politiker war damals Erdoğan selbst. 1999 bebte im Raum Istanbul die Erde mit katastrophalen Folgen, 2002 gewann die AKP erstmals klar die Wahlen. Erdoğan wurde Premier, später Präsident und baute die Türkei um. Sein Rezept für den Erfolg war, dass er auch den "kleinen" Leuten das Gefühl gab, sich um sie zu kümmern. Auch sein oftmals rabiater Volksislam war tiefer verwurzelt – und entsprach dem Trend zur Reislamisierung in der ganzen Region – als die von oben verordnete Säkularisierung der Türkei.

Erdoğan wird nun selbst mit den politischen Verwerfungen konfrontiert werden, die das Beben nach sich ziehen wird.
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Diskriminierende Kurdenpolitik

Heute, nach der Katastrophe, die vor einer Woche zehntausende Menschen das Leben gekostet hat, steht er als derjenige da, der die Menschen in der Türkei in Stich gelassen hat: alle, auch seine Klientel. Zwar sind in den vom Beben betroffenen Gebieten viele Kurden und Kurdinnen zu Hause, die ihm ohnehin kritisch gegenüberstehen. Aber auch seine Gefolgschaft ist vom Erdbeben schwerst betroffen.

Es wird nicht gelingen, Betrug und Korruption, die zu den ungeheuren Zerstörungen beigetragen haben, nur einzelnen Individuen oder lokalen Behörden anzuhängen. Und schon gar nicht die schlecht anlaufende Hilfe: Wenn der Autokrat einen Zentralstaat baut, die Institutionen schwächt, alle Macht in einer Hand versammelt, dann ist er dafür verantwortlich, dass dieser Staat auch in der Peripherie funktioniert. Das tut er nicht, wofür auch zumindest teilweise Erdoğans diskriminierende Kurdenpolitik verantwortlich ist.

Schwächung der Armee

Ein eklatantes Beispiel für das, was schiefgelaufen ist im türkischen Staat, ist die Rolle der Armee. Erdoğan hat Angst vor ihr, gewissermaßen zu Recht: Nur durch die Eindämmung ihrer Macht konnte er hochkommen – und in der ersten Phase seines Wirkens auch tatsächlich die demokratischen Strukturen stärken, denen die in der türkischen Geschichte putschfreudige Armee immer im Weg stand. Aber die politische Schwächung hat ganz offenbar auch zu einer Minderung der Kapazitäten der Armee beim Katastropheneinsatz geführt. Nach dem Beben war sie anfangs fast unsichtbar, so, als ob sie erst eingesetzt worden wäre, als es nicht mehr anders ging.

Dazu kommt die prekäre Sicherheitslage, die großes Gewaltpotenzial hat. Die Plündereien werden von manchen vor allem syrischen Flüchtlingen angelastet – wie schon zuvor die miserable Wirtschaftslage. Erdoğans neue Interventionsdrohungen in Syrien hatten nicht nur das ewig gleiche proklamierte Ziel, gegen die PKK vorzugehen, sondern auch das, angesichts der bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen eine Aussicht zu eröffnen, dass möglichst viele Flüchtlinge zurück nach Syrien gebracht werden können.

Die türkische Verfassung sieht keine Verschiebung der Wahlen vor. Erdoğan kann sie höchstens um den Monat nach hinten versetzen, um den er sie vorgezogen hat – auf Mitte Mai. Alles andere wäre ein Verfassungsproblem, bei dessen Lösung ihm die türkische Opposition, die sich erstmals ernsthaft zusammenzuraufen versucht, kaum helfen wird. Auch diesmal wird das große Beben politische Verwerfungen nach sich ziehen, die noch nicht abzusehen sind. (Gudrun Harrer, 12.2.2023)