Einsatzkräfte in der Nähe der Stelle, an der die 17-jährige Aleyna Ölmez 248 Stunden nach dem Erdbeben lebend geborgen wurde.

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Aleyna Ölmez wird aus den Trümmern gerettet.

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Gaziantep/Idlib/Ankara/Damaskus/Potsdam – Die Rettungskräfte in der türkisch-syrischen Grenzregion können auch noch zehn Tage nach dem verheerenden Erdbeben Erfolge vermelden. In der Stadt Kahramanmaraş wurde 248 Stunden nach dem Erdbeben ein 17-jähriges Mädchen aus den Trümmern gerettet. Aleyna Ölmez, deren Nachname auf Türkisch "Die, die nicht sterben wird" bedeutet, wurde lebend geborgen. In Antakya ist ein 13-jähriger Bub nach 228 Stunden, also knapp zehn Tagen, aus den Trümmern gerettet worden.

In einem Video auf Twitter ist die Rettung der 17-Jährigen und die Reaktion der Einsatzkräfte zu sehen.

Die Folgen der Erdbebenkatastrophe werden die Türkei einer Prognose zufolge bis zu ein Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung kosten. "Das Erdbeben hat in hohem Maße landwirtschaftliche Gebiete und Regionen mit leichter Produktion betroffen, sodass die Auswirkungen auf andere Sektoren begrenzt sind", sagte die Chefvolkswirtin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), Beata Javorcik, am Donnerstag. Der Wiederaufbau könnte aber im Jahresverlauf die negativen Auswirkungen auf Infrastruktur und Lieferketten ausgleichen.

Starkes Nachbeben am Donnerstag

Die Türkei und das benachbarte Syrien wurden vor zehn Tagen von einem verheerenden Erdbeben und starken Nachbeben erschüttert. Dabei sind mehr als 42.000 Menschen ums Leben gekommen. Millionen von Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Nato sagte dem Mitgliedsland Türkei indes weitere Unterstützung zu. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach in Ankara von der "tödlichsten Naturkatastrophe auf Bündnisgebiet seit der Gründung der Nato".

Allein in der Türkei wurden laut Regierung 224.923 Wohnungen in der Erdbebenzone zerstört, stark beschädigt oder seien abrissreif. 1,6 Millionen Menschen sind demnach in Notunterkünften untergebracht. Die türkische Regierung hat außerdem die Zahl der betroffenen Provinzen von zehn auf elf erhöht. Bis Donnerstagmorgen wurden mehr als 4.300 Nachbeben in der Grenzregion registriert. Ein Gebäude in Latakia ist laut einem Medienbericht nach einem neuerlichen Erbeben mit der Stärke 4,7 eingestürzt.

Debatte um Wahlverschiebung

Viele Überlebende sind bei den winterlichen Temperaturen obdachlos geworden. Auf Naturkatastrophen spezialisierte Expertinnen und Experten veranschlagen die wirtschaftlichen Schäden des Erdbebens in der Türkei und in Syrien auf mehr als 20 Milliarden Dollar (fast 19 Milliarden Euro). Nur ein Bruchteil davon – gut eine Milliarde Dollar – sei aber versichert, hieß es in einer ersten Schätzung der US-Firma Verisk Analytics.

Die Wachstumsprognose für die Türkei – die der größte Empfänger von Mitteln der Wiederaufbaubank ist – wurde für das laufende Jahr von 3,5 auf 3,0 Prozent nach unten korrigiert. Das Erdbeben hat auch die Pläne für die ursprünglich für Juni angesetzten Wahlen durcheinandergebracht. Zwischen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der Opposition ist eine heftige Debatte über eine Verschiebung entbrannt.

Viele Menschen vermissen immer noch Angehörige in den Trümmern. Präsident Erdoğan versprach am Montag, die Bergungsarbeiten nicht einzustellen, ehe alle Verschütteten geborgen seien. In den sozialen Medien teilen viele inzwischen Suchanzeigen in der Hoffnung, ihre Angehörigen in Krankenhäusern wiederzufinden. Mehr als 13.000 bei dem Beben Verletzte werden noch in Spitälern behandelt, sind aber teilweise nicht identifizierbar, wie ein Krankenhausmitarbeiter in Adana sagte.

Suizidrate gestiegen

Die derzeit geleistete Hilfe kann den enormen Bedarf nach Einschätzung der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen nicht decken. Die Erdbeben hätten in Syrien mehr als 1.700 Gebäude komplett sowie mehr als 5.700 teilweise zerstört. Die Organisation rechnet auch mit einem deutlich erhöhten Bedarf an psychosozialer Beratung. Die Suizidrate sei bereits "in den vergangenen Jahren aufgrund der prekären Lebensbedingungen und der Perspektivlosigkeit gestiegen".

Arabische Medien berichteten unterdessen, dass immer mehr Syrer die Türkei verlassen. Nach den Beben wollen viele wieder bei ihren Familien sein, obwohl die Kriegsgefahr längst noch nicht gebannt ist. Nach der verheerenden Zerstörung vieler Städte rät ein Experte davon ab, die Städte am selben Ort wiederaufzubauen. Sowohl nordöstlich als auch etwas weiter südlich der Katastrophenregion seien Beben überfällig. Die Vorbereitung darauf durch eine erdbebensichere Bauweise sei unbedingt notwendig und theoretisch auch möglich – aber mit immensen Kosten und entsprechend langen Bauzeiten verbunden. (Reuters, APA, 16.2.2023)