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Naht das Ende der individuellen Gehaltsverhandlungen?

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Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Ein österreichisches Unternehmen will einen Wiener als Außendienstmitarbeiter anstellen. Als Grundgehalt werden ihm 3.500 Euro monatlich angeboten, der Wiener aber macht erhebliche Einarbeitungskosten geltend und verhandelt deshalb erfolgreich einen Grundgehalt von 4.500 Euro.

Drei Monate später bekommt ein Vorarlberger vom selben Unternehmen für eine gleiche Außendienststelle ein Grundgehalt von 3.500 Euro angeboten. Der Vorarlberger verhandelt nicht nach, ist explizit mit dem Angebot zufrieden und nimmt es an. Wenige Monate später aber erfährt er, dass der Wiener für die gleiche Tätigkeit 4.500 Euro erhält. Daraufhin verklagt der Vorarlberger das Unternehmen wegen Diskriminierung.

Was würde man wohl zum Vorarlberger sagen? Vermutlich, dass er doch dem Angebot ohne Rückverhandlungen zugestimmt habe oder dass es in seinem Ermessen gelegen sei, auch nach mehr Gehalt zu fragen. Würde man der Klage des Vorarlbergers gute Chancen einräumen? Vermutlich nicht.

Ungefragt mehr Gehalt anbieten?

Das deutsche Bundesarbeitsgericht hat Mitte Februar in dritter und letzter Instanz einer Frau recht gegeben, die genau den oben geschilderten Fall als Fall von Diskriminierung vor Gericht gebracht hatte. Man muss nur das österreichische Unternehmen mit einem sächsischen Metallbetrieb ersetzen, den Vorarlberger mit einer deutschen Außendienstmitarbeiterin und den Wiener mit einem deutschen Außendienstmitarbeiter. Alle anderen Informationen bleiben gleich.

Die ersten beiden Instanzen haben die Klage der Frau abgewiesen, aber das Bundesarbeitsgericht unter Präsidentin Inken Gallner hat der Frau nun wegen Diskriminierung recht gegeben. Laut Urteil hätte das Unternehmen der Frau ungefragt den gleichen Gehalt wie dem Mann anbieten müssen, selbst wenn diese nicht danach gefragt hat und selbst wenn sie mit dem Angebot ausdrücklich zufrieden war.

Im Folgenden möchte ich drei interessante Aspekte dieses Falls diskutieren, weil man sich ja leicht vorstellen kann, dass es so ähnliche Situationen auch in Österreich geben könnte. Davor möchte ich aber zwei Dinge vorausschicken.

Perspektiven der Diskriminierung

Erstens, ich bin selbst Vorarlberger und habe mir darum erlaubt, im einleitenden Beispiel einen Vorarlberger zur Illustration zu nehmen. Das Beispiel eines Wieners kommt daher, weil ich gerne und häufig in unserer Bundeshauptstadt unterwegs bin. Zweitens sind mir Fragen von Gleichberechtigung wichtig, nicht zuletzt als Vater zweier Töchter, die ich ungern benachteiligt sehen würde. In meinem aktuellen Buch "Der menschliche Faktor oder worauf es im Berufsleben ankommt" habe ich mich in mehreren Kapiteln mit den negativen Auswirkungen von Diskriminierung und der Bedeutung von Gleichberechtigung der Geschlechter auf Arbeitsmärkten beschäftigt.

Aber zurück zum Urteil des deutschen Bundesarbeitsgerichts. Aus juristischer Sicht haben mehrere deutsche Juristen ernsthafte Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit des Urteils geäußert. Clemens Höpfner, Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln, wird in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zitiert, dass es nicht nachvollziehbar wäre – und auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs widersprechen würde –, wenn künftig individueller Verhandlungserfolg nicht mehr für die Gehaltsfindung zählen würde. Möglicherweise landet der aktuelle deutsche Fall genau mit dieser Begründung auf europäischer Ebene.

Was ist mit der Vertragsfreiheit?

Aus dem Blickwinkel der Ausgestaltung eines Wirtschaftssystems untergräbt das deutsche Urteil auch die Vertragsfreiheit von Verhandlungspartnern, indem es Dinge normieren möchte, über die die Verhandlungsparteien in außertariflichen Belangen selbst entscheiden können – und auch dürfen sollten, um dem Namen einer marktwirtschaftlichen Ordnung noch gerecht zu werden. Die Alternative einer staatlichen Regelung aller wirtschaftlichen Prozesse hat sich historisch betrachtet als nicht gerade erfolgreich erwiesen, um es vornehm auszudrücken.

Der (deutsche) Zeitgeist zeigt aber wieder wachsende Sympathien für solche überkommenen Systeme. Man fragt sich, wo das Ende solcher Tendenzen zu sehen ist. Sollen am Schluss alle Menschen, unabhängig von Alter, Beruf und Qualifikation, gleich viel oder gleich wenig verdienen?

Wo bleibt die Eigenverantwortung?

Zuletzt wirft das deutsche Urteil ein sehr eigenartiges Bild auf das Verständnis von eigenverantwortlichem Handeln. Wenn jemand einem Angebot (ohne Zwang) zustimmt und auch ausdrücklich nicht nach mehr verlangt oder andere Bedingungen stellt, dann übernimmt er damit Verantwortung für sein Handeln.

Wenn diese Verantwortung plötzlich nicht mehr gilt und man sie vollständig an die Gerichte und den Staat abgibt, dann entwertet das die Freiheit des Einzelnen, unabhängig davon, ob es sich um einen Vorarlberger, einen Wiener, eine Frau oder einen Mann handelt. Dann aber wäre plötzlich niemand mehr für sein Tun verantwortlich. Und wir wären in einer schönen neuen Welt angelangt. (Matthias Sutter, 20.2.2023)