Volkmar Sigusch als Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft in Frankfurt am Main.
Foto: Frank Roeth, F.A.Z.

Frankfurt/Main – Seit rund einem halben Jahrhundert prägte Volkmar Sigusch die Sexualforschung im deutschsprachigen Raum. Er war weltweit der erste habilitierte Sexualwissenschafter und gründete 1972 das Institut für Sexualwissenschaften in Frankfurt am Main – mit nur 32 Jahren. Wie sein Lebenspartner vor wenigen Tagen bekanntgab, ist Sigusch am 7. Februar verstorben.

In der DDR aufgewachsen und kurz vor dem Mauerbau in den Westen geflohen, war Sigusch fachlich sowohl in Medizin und Psychologie als auch in Soziologie und Philosophie verankert, konkret: in der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno. Aufbauen konnte er auf legendäre Vorreiter wie den Sexualforscher Magnus Hirschfeld, der das Fach in den 1920er-Jahren in Höhen hob, auf die mit dem Nationalsozialismus ein tiefer Fall folgte.

Einfluss auf Strafrechtliches

Siguschs Höhenflüge in der Sexualforschung fielen in die Zeit nach den 1968er-Revolten. Er bezeichnete die damaligen Veränderungen auf sexuellem Terrain als "neosexuelle Revolution", was sich wohl auch analog zur "neolithischen Revolution" – dem gesellschaftsprägenden Übergang von Jäger-Sammler-Gemeinschaften zum sesshaften Leben – verstehen lässt.

Debatten um diverse Fragen der Sexualität prägte Sigusch zeitlebens wesentlich durch empirische Arbeiten und essayistische Schriften mit. Beispielsweise hatte er Einfluss auf Reformen des deutschen Sexualstrafrechts: Mehr als 20 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus hatte die Bundesrepublik den "Homosexuellen-Paragrafen" 175 beibehalten. Erst in den 1970er-Jahren wurde er dahingehend geändert, dass das Schutzalter bei Sex zwischen Männern bei 18 Jahren lag (bei heterosexuellen und lesbischen Sexualkontakten lag es bei 14 Jahren). Abgeschafft wurde er erst 1994.

Cisgender und Transgender

Bei seinen scharfsinnigen Analysen zeigte sich mitunter ein Hang zum Essayistischen. Sigusch sei stets kritisch gesellschaftstheoretisch vorgegangen, aber "nie isoliert mit empirischer Abgehobenheit", wie der Psychoanalytiker Josef Aigner von der Uni Innsbruck hervorhebt. Stattdessen sei es ihm wichtig gewesen, das Phänomen gerade auch im Kontext von Herrschaft, Vermarktung und zeitgeistigen Moden zu analysieren.

So geht auf den Wissenschafter und Psychiater unter anderem der Begriff "Cisgender" als Gegenstück zu "Transgender" zurück, 1991 noch als "Zisgender" geschrieben. Wie er 2018 in einem Interview erwähnte, ging es ihm damals darum, Transpersonen auch sprachlich anzuerkennen und einzuordnen: "Wenn es Cissexuelle gibt, dann muss es auch Transsexuelle geben. Das heißt, die sind ganz normal."

Konservativ-reaktionäre Positionen kritisierte Sigusch scharf, betont Aigner. Der Pionier habe aber genauso Neues und Schrilles hinterfragt sowie Entwicklungen, die "manchmal vorschnell als befreiend" gefeiert wurden.

Produktiver Autor

Nach seiner Emeritierung 2006 wurde auch das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaften geschlossen. Eine Entwicklung, die er als frustrierend empfand: "Sein" Institut, an dem er sich gegen die "Psychiatrisierung" abweichender Sexualitäten einsetzte, wurde aufgelöst, das Themenfeld an der Universität der psychiatrischen Abteilung zugeordnet.

Dennoch blieb Sigusch auch in den Folgejahren produktiv. Insgesamt verfasste er mehr als 850 wissenschaftliche Arbeiten, eine beeindruckende Zahl. Lehrbücher wie "Sexuelle Störungen und ihre Behandlung" sowie die Enzyklopädien "Geschichte der Sexualwissenschaft" und "Personenlexikon der Sexualforschung" gelten als Standardwerke, die ihren Autor, der im 83. Lebensjahr in Frankfurt am Main starb, lange überleben werden. (sic, 21.2.2023)