Gedruckte Landkarten sind zu stummen Zeugen einer Zeit geworden, als das Reisen noch eine durch und durch analoge Beschäftigung war.

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Die Plansammlung ist die Frucht einer langen, manchmal intensiven Reisetätigkeit.

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Der Untergang des papierenen Faltplans ist nur ein Bruchteil der digital verursachten Degeneration der Reisekultur.

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Nachteile der digitalen Orientierungshilfen beim Wandern: Sie sind nutzlos, wenn der Akku leer ist, und Verursacher einer Entsinnlichung.

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Die Schachtel ist schwarz, Format 36 x 29 x 17 cm. Ecken abgestoßen, Kanten abgerieben, keine Schönheit, aber zweckdienlich. Sie steht in meinem kleinen Privatarchiv, neben etlichem anderen Schachtelwerk, das zur Bändigung der im Laufe der Jahre anwachsenden Objektbestände gute Dienste leistet (Marie Kondo, schau her). Die Funktion der Schachtel ist die eines Schatzkästchens, inzwischen so prall gefüllt, dass ich vor einiger Zeit eine Dependance in einer Zweitschachtel eröffnen musste. Ihr Inhalt ist ohne finanziellen, aber von sentimentalem Wert, wenn auch nur für mich selbst. Also her mit dem Ding und frisch den Deckel gehoben. Was haben wir denn da alles?

Gestapelte Reisetätigkeit

Der Blick ins Schachtelinnere ist wie der Blick durch ein Zeitfenster. Er öffnet sich auf eine Sammlung von Accessoires, die alle für etwas stehen, was man die verflossene Ära des (ausschließlich) analogen Reisens nennen könnte: sedimentartig übereinandergestapelte Pläne und Broschüren von Städten, Regionen, Ländern, in unterschiedlichen Abnutzungsgraden, aus dem guten alten Werkstoff Papier verfertigt, wunderbar vielfarben, einen nostalgischen Geruch mit einer Note von Moder ins Freie entlassend. Die Plansammlung ist Frucht einer langen, manchmal intensiven Reisetätigkeit; vor allem in dreizehn Jahren Arbeit als außenpolitischer Redakteur kamen viele Zehntausende Kilometer zusammen.

Plastifiziert und gefaltet

Ich grabe mich durch den ersten Planstapel: eine City-Map von Istanbul, ein Straßenverzeichnis von London (A to Z, New Edition), ein plastifizierter Faltplan aus New York ("Streetwise Manhattan"), ein in Niederländisch gehaltener Stadtplan von Den Haag (mit "Straatnamenregister"; Erinnerung an den UN-Kriegsverbrecherprozess gegen Dusan Tadic), eine Bangkok-City-Map mit aufgedruckter Werbung für die angeblich meistbesuchte Shoppingmall ("Thousand of Shops. Millions of People. Endless Bargains."), ein Reiseführer durchs asturische Gebirge (Auskunftsmittel für einen Reisebericht über die Picos de Europa, den ich vor etwa hundert Jahren für das "Visa Magazin" / Falter-Verlag geschrieben habe), ein russisch-englischer Stadtplan von Moskau und so fort. Nur von der kriegsversehrten tschetschenischen Hauptstadt Grosny besitze ich keine Karte. Dafür hat sich der Anblick von mit MG-Garben kaputtgeschossenen und in Grund und Boden gebombten Häusern umso tiefer ins Gedächtnis gegraben.

Wandern und Welterbe

Durchsetzt ist der internationale Andenkenladen mit Kartenmaterial heimischer Herkunft, unentbehrlich für Ausflüge aller Art: die Freytag & Berndt Wander-Rad-Freizeitkarte WK071 (Wachau, Welterbesteig, Nibelungengau und angrenzende Gebiete), ein Plan des Bahnwanderwegs Semmering, ja selbst ein Ortsplan der Marktgemeinde Sieghartskirchen ist darunter. Bei einem Gutteil dieser Utensilien rechne ich damit, dass ich sie nicht mehr so schnell oder gar nicht mehr zurate ziehen werde. Aber Karten und Pläne wegschmeißen? Nie und nimmer. Viele von ihnen sind zu bemerkenswerten stummen Zeugen einer Zeit geworden, als das Reisen noch eine durch und durch analoge Beschäftigung war. Der erste Pariser Windstoß, der den Jungtouristen an einem französischen Julimorgen durch die langen Haare fuhr und das Kartenwerk, das sie in Händen hielten, in einen nicht mehr zu domestizierenden Papierhaufen verwandelte: ein unvergessliches Erlebnis (leichter zu handhaben war der von Verleger A. Leconte herausgegebene "Plan de Paris", ein Minibuch in braunem Plastikeinband, das konnte man allerorten problemlos aufschlagen).

Zweimal Knopf drücken

Die Zeiten haben das getan, was sie immer tun: sich geändert. Wenn die Leute heute, wie gelegentlich zu beobachten, selbst im Theater oder im Kino lieber aufs Handy schauen als auf die Bühne oder die Leinwand, ist unschwer nachzuvollziehen, dass sie auch lieber digitale Helfer wie Google Maps zum geografischen Zurechtfinden heranziehen als den guten, alten, umständlichen Faltplan aus Papier. Natürlich gibt es ihn noch, aber er hat an Popularität eingebüßt. Es ist müßig, darüber zu jammern. Nach dem bloßen Nutzwert betrachtet, der Geschwindigkeit, mit der man in fremder Umgebung Informationen zusammentragen und kombinieren kann, sind Google Maps und Co nicht zu schlagen. Zweimal auf einen Knopf zu drücken ist einfacher, als sich mit starkem Akzent bei einem mürrischen Pariser Passanten nach einer Metro-Station zu erkundigen. Und das ist ja erst der Anfang. Wenn es erst einmal das Metaverse gibt, kann man sich die Mühe ersparen, den Hintern aus seiner Behausung herauszubewegen, und stattdessen am Vormittag zu Hause mit seinem Virtual-Reality-Headset in Saint Germain, Hollywood oder Linz-Urfahr spazieren gehen. Wundervoll wird das!

Kein Schritt ohne Datenbank

Keineswegs möchte ich mich dem Verdacht der Vergangenheitsverklärung aussetzen. Aber, um mit Nestroy zu sprechen: Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist. Für das Privileg der Digital Natives, in Sekundenschnelle die nächstgelegene Burgerhütte oder das nächstgelegene vegane Restaurant (samt Sternebewertung bei Tripadvisor) ausfindig machen zu können, zahlt man den stolzen Preis des Auf-Schritt-und-Tritt-ausgespäht-Werdens. Es ist unmöglich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne dass dies in einer kalifornischen Datenbank festgehalten und zur weiteren finanziellen Nutzung weiterverkauft würde: "Surveillance capitalism", Überwachungskapitalismus, nennt das die amerikanische Ökonomin Shoshana Zuboff (aber dann auch wieder: Gerechtigkeit für das Handy! Einander in analogen Reisezeiten handylos in einer Großstadt zu verlieren war nicht das reine Vergnügen und manchmal stressig oder gar gefährlich).

Digitale Degeneration

Weitere Nachteile der gängigen digitalen Orientierungshilfen: nutzlos, wenn der Akku leer ist, und Verursacher einer Entsinnlichung und sensorischen Verelendung, die das Reisen zu einem billigen Allerweltserlebnis – das ist keineswegs positiv gemeint – hat verkommen lassen. Der Untergang des papierenen Faltplans ist dabei nur ein Bruchteil der digital verursachten Degeneration der Reisekultur. In den 1970er ein festes Flugticket, das sich wie Karton anfühlte, in Händen zu halten: Das versetzte den Halter sogleich in eine Stimmung persönlicher Bedeutsamkeit und professionellen Umsorgtseins. Heute hältst du das Handy über einen hässlich piepsenden Sensor oder reist mit einem Papierfetzen, der den Namen "Ticket" trägt und den du selbst ausdrucken musstest. In der Tat: Der Fortschritt ist kleiner, als er ausschaut. (Christoph Winder, 24.2.2023)