Im Gastblog kontextualisieren die Wissenschafterinnen Magdalena Baran-Szołtys und Malwina Talik die Aufnahme von Ukrainerinnen und Ukrainern in Polen in Hinblick auf die politische Situation des Landes.

Polen gilt als einer der größten Verbündeten der Ukraine im Kampf gegen Russland. Auf politischer Ebene stellte man sich gleich nach dem russischen Angriff am 24. Februar des vergangenen Jahres klar gegen den russischen Aggressor auf die Seite der Ukraine. Auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene wurde von den ersten Stunden an aktive Solidarität bekundet und Hilfeleistung für die aus der Ukraine ankommenden Vertriebenen organisiert. Eine solche Entwicklung stand klar im Gegensatz zu der bisherigen Anti-Migrations- und Flüchtlingspolitik Polens innerhalb der EU, die breite Unterstützung innerhalb der Bevölkerung fand. Die Situation ukrainischer Geflüchteter jedoch rief in Polen andere Reaktionen hervor. Der Krieg im Nachbarland prägt die polnische Gesellschaft immens. Neben den ökonomischen Auswirkungen fühlen sich viele Polinnen und Polen stark an die eigene Geschichte und alte Traumata erinnert — begleitet von der Angst, das nächste Angriffsziel Putins zu werden.

Essensausgabe für ukrainische Geflüchtete im März 2022 bei dem polnischen Grenzort Przemyśl.
Foto: imago images/Jakub Porzyck/NurPhoto

Zudem waren nur wenige europäische Länder dermaßen stark an der Aufnahme und am Transit der aus der Ukraine flüchtenden Menschen beteiligt. Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes überquerten zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 12. Februar 2023 insgesamt knapp zehn Millionen Menschen aus der Ukraine die polnisch-ukrainische Grenze, überwiegend Frauen und Kinder. Die stetige militärische und humanitäre Hilfe und beispiellose Verbundenheit Polens mit der Ukraine ist der Grund, weshalb der US-amerikanische Präsident Joe Biden von Polen aus seine Ansprache zum Jahrestag des Angriffs gehalten hat.

Die Aufnahme von Geflüchteten in Zahlen

Die höchste Zahl von Personen mit Anspruch auf vorübergehenden Schutz aus der Ukraine im Verhältnis zur Bevölkerung innerhalb der Europäischen Union wurde in Tschechien (41,1 – Zahl im Verhältnis zur Bevölkerung pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner) vor Estland (28,8), Polen (25,5), Litauen (23,3) und Bulgarien (21,6) festgestellt. In Polen leben die Ukrainerinnen und Ukrainer vor allem in den Metropolen und stellen heute beispielsweise 15 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner Warschaus dar.

Polen hat im Jahr 2022 insgesamt 961.340 Menschen aus der Ukraine aufgenommen, Österreich im Vergleich dazu nur 87 570, weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung. In der Republik Moldau, einem der ärmsten und mit 2,6 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern kleinsten Länder Europas, und zudem durch einen "eingefrorenen Konflikt" mit Russland in Transnistrien vorbelastet, waren im Jänner 2023 über 108.000 Menschen aus der Ukraine registriert, vier Prozent der Gesamtbevölkerung.

Solidarität der polnischen Zivilgesellschaft

Die wirkmächtigen Bilder Polens als Aufnahmeland für Ukrainerinnen und Ukrainer sind vor allem auf die Haltung der Zivilgesellschaft zurückzuführen. An der polnisch-ukrainischen Grenzen kamen Freiwillige zusammen, teilten Sachspenden aus, vermittelten Unterkünfte und Mitfahrgelegenheiten. In Tourismusstädten und -dörfern stellten Besitzerinnen und Besitzer unvermietete Unterkünfte unentgeltlich zur Verfügung. Sieben Prozent der polnischen Bevölkerung nahmen ihnen unbekannte Geflüchtete bei sich zuhause auf. Eine Ausnahmeleistung lieferten zwei junge Frauen am Warschauer Bahnhof: In Ermangelung professioneller, zentral organisierter Hilfeleistung vor Ort gründeten sie mithilfe sozialer Medien und ehrenamtlichen Engagements die "Grupa Centrum", eine eigene Organisation mit mehreren Subeinheiten (Transport, Unterkünfte etc.). Innerhalb dieser wurden bald Institutionen und Gruppen wie die Feuerwehr oder Pfadfinder aktiv oder Apps zur Wohnungsfindung mit Filterfunktion zur Verfügung gestellt.

"Eine derart allumfassende Unterstützung hatte die polnische Gesellschaft seit der Entstehung der Solidarność-Bewegung vor rund 40 Jahren nicht mehr erlebt", stellt die Soziologin Malgorzata Fuszara von der Universität Warschau fest.

Was steht hinter der Hilfsbereitschaft?

Seit 2015 verfolgt Polen unter der PiS-Regierung eine harte Linie gegen Geflüchtete aus dem außereuropäischen Raum und war insofern kein Zielland für Zwangsmigrantinnen und Zwangsmigranten. Die enorme Unterstützung Polens für die aus der Ukraine flüchtenden Menschen kam deshalb für viele sowohl im Westen als auch in Polen selbst überraschend. Die Gründe für diese Entwicklung sind divers.

Die ukrainische Diaspora in Polen, die seit dem Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine 2014 rapide wuchs und vor dem 24. Februar des letzten Jahres eine Million Menschen zählte, war ein wichtiger Faktor, weil die ersten Geflüchteten zu ihren Verwandten sowie Freundinnen und Freunden flohen. Da in Folge des Krieges Familien getrennt wurden, wollen viele Flüchtlinge in der Nachbarschaft der Ukraine bleiben – um Verwandte zu besuchen, aber auch in der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende.

Fokus auf ukrainische Geflüchtete

Ein weiterer Faktor, der beide Länder eint, ist der gemeinsame Gegner. Aufgrund von historischen Erfahrungen identifizieren sich Polinnen und Polen mit der Notlage der Ukraine, viele fürchten, dass ihr Land zum nächsten Ziel russischer Aggression werden könnte. Die ukrainischen Geflüchteten passen auch in die verklärte Vorstellung der "richtigen" Hilfesuchenden: Sie sind überwiegend Frauen und Kinder. Nicht zuletzt verbindet beide Gesellschaften – trotz einer eigentlich schwierigen Geschichte der polnisch-ukrainischen Beziehungen – eine kulturelle und sprachliche Nähe sowie das postsozialistische Erbe, wodurch eine Aufnahme als auch die Integration und Kommunikation erleichtert wird.

Dabei variierte oft auf beiden Seiten der Grenze die Behandlung der aus der Ukraine flüchtenden Menschen, die keine ukrainischen Bürgerinnen und Bürger waren (etwa afghanische Geflüchtete, internationale Studierende, Roma und Sinti): Hilfe erhielten diese erst nach den Ukrainerinnen und Ukrainern, auch private Unterkünfte wurden ihnen seltener angeboten. Vor allem ist aber die Rolle des politischen Willens als Faktor nicht zu unterschätzen: Die polnische Regierung und regierungsnahen Medien befürworteten die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine.

Nicht alle sind willkommen

Diese Willkommenskultur steht im starken Kontrast zur Behandlung der Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze. Die von Lukaschenko betrogenen Menschen aus dem Irak, Afghanistan und afrikanischen Staaten werden dort seit Herbst 2021 zwischen belarussischen und polnischen Grenzschutzkräften hin- und hergeschoben. Die polnische Regierung positionierte sich von Anfang an gegen deren Aufnahme und hat dazu auch öffentliche Medien eingesetzt.

Sogar wenn die Geflüchteten es auf das Gebiet Polens schaffen und Asyl beantragen wollen oder aufgrund Unterkühlung des Körpers eine Spitalbehandlung brauchen, werden sie nach Belarus abgeschoben. Nach offiziellen Angaben kosteten diese Pushbacks bis jetzt 37 Personen das Leben, 300 werden vermisst. Die Protestbriefe der Personen des öffentlichen Lebens sowie der ukrainischen Hilfsorganisationen, die sich für diese Zwangsmigrantinnen und Zwangsmigranten einsetzen, bleiben unerhört. Der lokal engagierten und helfenden Bevölkerung sowie Aktivistinnen und Aktivisten drohen Strafen.

Ambivalente Stimmungen

Entgegen den Prognosen von Expertinnen und Experten hat die ursprünglich positive Einstellung gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine (90 Prozent im April 2022) im Laufe der Zeit nicht deutlich nachgelassen, zumindest laut den meisten Umfragen. Aus der Studie des slowakischen Think-Tanks Globsec "Perception of Ukrainian refugees in the V4" geht hervor, dass 85 Prozent der befragten Polinnen und Polen diese positiv wahrnehmen.

Überraschend ist dabei, dass ein relativ hoher Anteil an jungen Menschen eine negative Wahrnehmung hat 35 Prozent, was mit der in sozialen Medien zirkulierenden Desinformation erklärt werden könnte. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt eine Studie von ZOIS: Obwohl junge Menschen in Polen mehrheitlich die Ukraine unterstützen, befürworten nur knapp über 24 Prozent eine langfristige Integration.

Ein abweichendes Bild zeigt ein Bericht der linken Zeitschrift Krytyka Polityczna: Die Unterstützung der Mehrheit sei heuchlerisch. Es dominiere auch der Neid, dass diese den gleichen Zugang zu Sozialleistungen (Gesundheitswesen, Kindergeld usw.) erhalten. Dieser Unmut könne bald von radikalen Akteurinnen und Akteuren politisch ausgenutzt werden.

Beunruhigende Zukunftsprognosen

Je länger der Krieg dauert und die ökonomische Situation für die Polinnen und Polen immer schwieriger ertragbar wird, desto stärker könnte die Unterstützung nachlassen. Und um die ökonomische Lage in Polen kann man sich sorgen: Die Inflation liegt mit 17,2 Prozent im Jänner weit über dem EU-Durchschnitt, nur Ungarns Inflation ist höher, und bisher flossen aufgrund des Verfahrens wegen fehlender Rechtsstaatlichkeit auch noch keine Hilfsgelder aus dem EU-Aufbauplan nach Polen. All diese Faktoren erhöhen das Risiko der Instrumentalisierung der Geflüchteten zu politischen Zwecken durch rechtsradikale Parteien, insbesondere im Hinblick auf die nationalen Parlamentswahlen kommenden Herbst. (Magdalena Baran-Szołtys, Malwina Talik, 2.3.2023)