Am Hinterleib der "Scharfschützen" bildet sich ein Urintropfen, der kurz danach in hoher Geschwindigkeit fortkatapultiert wird.
Foto: Georgia Institute of Technology

"Squirting" wird im deutschen Sprachgebrauch mit weiblicher Ejakulation in Verbindung gebracht, wobei noch immer darüber diskutiert wird, welche Begrifflichkeiten sich bei welcher Flüssigkeit – ob durch bestimmte Drüsen produziert oder vor allem verdünnter Urin – am besten eignen. An sich gilt der Begriff im Englischen aber für jede Form des Abspritzens. In der Zoologie erregt zu diesem Thema nun eine Insektenspezies Aufmerksamkeit, für die es keinen deutschen Namen gibt, die aber aus dem Englischen mit "glasflügeliger Scharfschütze" übersetzt werden könnte.

Die Art aus der Gruppe der Schmuckzikaden nimmt täglich große Mengen an Flüssigkeit zu sich – und muss diese als wenige Millimeter kleines Tier auch schnell wieder loswerden. Mit ihren Mundwerkzeugen zapfen sie Pflanzen an, um an deren Saft zu kommen. Der Xylemsaft ist arm an Nährstoffen, umso mehr müssen die Insekten davon trinken, um ihren Energiebedarf zu decken. Die Zikaden sorgten damit in kalifornischen Weinbergen für Schwierigkeiten, denn sie können Viren und Bakterien übertragen und damit Pflanzenkrankheiten hervorrufen.

Die Insektenart – Homalodisca vitripennis, früher unter dem Namen H. coagulata bekannt – auf einer Basilikumpflanze.
Foto: Georgia Institute of Technology

Saad Bhamla vom Georgia Institute of Technology und sein Team interessierten sich jedoch mehr für die besondere Vorrichtung am Hinterteil dieser Zikaden. Denn die überschüssige Flüssigkeit wird nicht wie bei anderen Zikadenarten in einem Strahl abgesondert. Stattdessen produziert der "Scharfschütze" – fachsprachlich C. vitripennis – einzelne Urintröpfchen. Mithilfe ihres "Analstifts" wird jeder Tropfen hinfortkatapultiert und kann dabei hohe Geschwindigkeiten erreichen, schreibt das Forschungsteam im Fachjournal "Nature Communications". Der Stift kann mit mehr als 40 G beschleunigen, etwa zehnmal schneller als die schnellsten Sportwagen.

Verhältnismäßig 12.000-mal mehr Ausscheidungen als Menschen

So werden diese Zikaden täglich etwa das 300-Fache ihres Körpergewichts an Flüssigkeit wieder los, wie Bhamla auch bei einem Ted-Talk ausführt. Das ist wesentlich mehr als bei Menschen: Unsere Exkremente lassen sich pro Tag durchschnittlich auf etwa 2,5 Prozent des Körpergewichts bemessen. Erfreulicherweise müssen wir im Gegensatz zu den Insekten weder extrem viel Pflanzensaft trinken noch diesen tröpfchenweise im Sekundentakt loswerden.

Georgia Tech College of Engineering

Miriam Ashley-Ross, Programmdirektorin für Biowissenschaften bei der U.S. National Science Foundation, die die Arbeit teilweise finanziert hat, setzt die Leistung auf andere Weise in ein Verhältnis zu Menschen: Es sei, "als würden wir versuchen, eine strandballgroße Kugel Ahornsirup, die an unserer Hand klebt, wegzuschleudern".

Nun könnte man meinen, dass das Wegschießen einzelner Tropfen zusätzlich Energie kostet. Wie das Forschungsteam schreibt, ist jedoch das Gegenteil der Fall. Mathematische Modelle demonstrieren, dass andere Methoden, Körperflüssigkeiten loszuwerden, wesentlich mehr Energie verbrauchen. Dabei kommt das Phänomen der Superpropulsion zum Einsatz. Ein Flüssigkeitstropfen wird durch eine schwingende Oberfläche nach oben befördert – und zwar mit einer Geschwindigkeit, die jene der schwingenden Oberfläche selbst übertrifft.

Selbstreinigende Designs

Der Takt des Analstifts am Körperende der Insekten wird dabei zeitlich auf die Frequenz der Urintröpfchen abgestimmt. Der beeindruckende Mechanismus könnte auch für Menschen eine praktische Anwendung haben oder zumindest für Roboter und Strukturen, die sich selbst reinigen können sollen. So könnten energiesparendere Designs entwickelt werden, meint auch Ashley-Ross – etwa im Fertigungsprozess von Elektronik oder wenn regelmäßig Wasser von strukturell komplexen Oberflächen entfernt werden muss.

Für die "Scharfschützen" hat die Taktik einen weiteren Vorteil: Weil die Ausscheidungen weggeschleudert werden, können Fressfeinde die Insekten nicht so einfach aufspüren, vermuten die Fachleute. Die Forschungsgruppe dürfte durch ihre Analysen zumindest einen Vorsprung auf den Ig-Nobelpreis haben, der satirisch besonders skurrile wissenschaftliche Arbeiten auszeichnet. (Julia Sica, 28.2.2023)