War in seiner Jugend selbst ein Bilderstürmer: der Philosoph Konrad Paul Liessmann.

Foto: Christian Fischer

Konrad Paul Liessmann hat nicht nur Generationen von Philosophiestudierenden geprägt, auch mit knapp 70 mischt er sich noch leidenschaftlich in die Diskussionen der Gegenwart ein. Davon zeugt auch sein jüngstes Buch Lauter Lügen, das im Zsolnay-Verlag erschienen ist und Kolumnen und Aufsätze, unter anderem zu Bildungs- und Sprachdebatten, umfasst. Zu Hochform läuft der gebürtige Kärntner beim Thema Cancel-Culture auf. Wir haben mit Liessmann im Rahmen der Gesprächsreihe "StandART" in der frisch renovierten Wiener Postsparkasse gesprochen. Die Videoversion des Gesprächs finden Sie auf unserer Onlineseite.

STANDARD: Mögen Sie James Bond?

Liessmann: In Maßen. Ich bin mit der Figur aufgewachsen, habe auch die ersten zwei, drei Romane gelesen. Aber ein Fan bin ich nicht.

STANDARD: Ich frage, weil gerade bekannt wurde, dass in den Originalausgaben der Romane sexistische und rassistische Ausdrücke und Passagen getilgt wurden. Haben Sie dafür Verständnis?

Liessmann: Wenig. Aber nicht, weil ich solche Passagen nicht anstößig fände, sondern weil ich lesenden Menschen zumute, die Distanz zwischen den 50er-/60er-Jahren des letzten Jahrhunderts und heute wahrzunehmen und beurteilen zu können. In der Literaturwissenschaft ist die historisch-kritische Ausgabe der Inbegriff der idealen Ausgabe. Sie hält all das fein säuberlich fest, was ein Autor in seinem Manuskript zu Papier gebracht hat. Was für Goethe gilt, sollte auch für Ian Fleming gelten.

STANDARD:Eine historisch-kritische Ausgabe ist ein Spezialfall. Bei Fleming wurde in erster Linie das N-Wort getilgt. In den 50er-/60er-Jahren, als die Romane geschrieben wurden, hatte das Wort eine ganz andere Bedeutung.

Liessman: Sehr viele Worte haben ihre Bedeutung geändert, und wir streichen sie dennoch nicht. Auch ein untadeliger Philosoph wie Adorno verwendete selbstverständlich das Wort "Neger", ohne jeden negativen Beiklang. Der heutige essenzialistische Umgang mit Sprache widerspricht nicht nur der Struktur von Sprache beziehungsweise der Einsicht des Philosophen Wittgenstein, dass die Bedeutung eines Wortes in seinem Gebrauch liegt, sondern auch einem Bildungsauftrag, der es nicht für zulässig erklären kann, dass die Vergangenheit nach den Erfordernissen der Gegenwart zurechtfrisiert wird. Darin drückt sich ein Überlegenheitsgefühl der Gegenwart aus, die es verlernt hat, historisch zu denken.

STANDARD: Sie gehen vom Idealbild eines sehr mündigen Lesers aus.

Liessmann: Ich habe nichts dagegen, wenn in Publikumsausgaben bei Begriffen, die heute als denunziatorisch gelten, eine Anmerkung gemacht wird. Sollte Ian Fleming Worte wirklich mit einem rassistischen Unterton verwendet haben – was er bei Schilderungen von Asiaten im Übrigen auch gemacht hat –, dann gibt es erst recht keinen Grund, das zu streichen: Man soll ruhig wissen, wes Geistes Kind er war.

STANDARD: Bei Pippi Langstrumpf wurde aus dem "Negerkönig" ein "Südseekönig". Halten Sie auch bei Kinderbüchern die Streichung des N-Worts für verfehlt?

Liessmann: Alle erzählen uns, wie selbstbewusst, kritisch und digital fit heute Kinder sind. Wenn ich Kindern zumute, dass sie sich binnen Sekunden ganze Welten digital erschließen, dann kann ich ihnen auch zumuten, herauszufinden, was das Wort "Neger" bei Pippi Langstrumpf bedeutet hat und warum wir es heute aus guten Gründen nicht mehr verwenden.

STANDARD: Kindern müssen selbst erst ein Verständnis für die Historizität von Sprache entwickeln – mutet man ihnen da nicht zu viel zu?

Liessmann: Kinder haben Eltern und Lehrer, die mit ihnen genau über diese Punkte sprechen sollten. Ich halte nichts von einer Überbevormundung von Kindern, auch wenn ich der Meinung bin, dass Kinder erst mal etwas lernen sollten, bevor sie den Mund aufmachen.

STANDARD: Die Kinderbücher von Roald Dahl wurden gerade überarbeitet, aus einem "enorm fetten Kind" wurde in "Charlie und die Schokoladenfabrik" ein "enormes Kind". Woher kommt diese plötzliche Empfindsamkeit?

Liessmann: Ich kann das bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Jeder, der mit Kindern zu tun hat, hat das Bedürfnis, sie in der besten aller Welten aufwachsen zu sehen und sie vor der Unbill der Welt zu bewahren. Aber in jeder Entwicklung gibt es den Punkt, an dem man mit der Welt konfrontiert werden muss. Diesen Punkt schieben wir immer weiter hinaus. Wir trauen auch Studierenden der Literatur nicht mehr zu, Shakespeare oder Sophokles ohne Warnungen oder Einglättungen zu lesen.

STANDARD: In der Hochkultur werden besonders eifrig Zensurmaßnahmen gefordert. Warum genau dort?

Liessmann: Es ist deren Qualität, deren ästhetische Provokation. Wenn ich sage, dass man den Othello nicht mehr spielen darf, dann stelle ich mich gegen eine 400 Jahre alte Tradition. Das ist doch ein ganz anderer Machtgestus, als zu fordern, dass ein Filmchen auf Tiktok nicht gezeigt wird. Es geht um die Fundamente einer Kultur, die man nicht mehr für legitim erachtet. Ich sehe das entspannt, weil genau dieser Gestus zum Wesen von Kultur gehört. Diese entsteht, indem ein Kanon infrage gestellt und dagegen rebelliert wird. Als junger Germanistikstudent wollte ich das Denkmal Goethe vom Sockel stoßen, ihn also canceln, und an dessen Stelle den Arbeiterdichter und DDR-Funktionär Willi Bredel setzen. Wir haben uns als richtige Revolutionäre gefühlt. Nur: Von Bredel spricht niemand mehr.

STANDARD: Ich traue meinen Ohren nicht: Sie ein früher Vertreter der Cancel-Culture?

Liessmann: Klar, es macht Freude, eine überlegene moralische Position einzunehmen. Ich habe zu viel Nietzsche gelesen, um nicht zu wissen, welche Lust es bereitet, jemandem das Wort zu verbieten. In meiner Jugend gab es die Diskussion zwischen Adorno und Sartre über engagierte Literatur. Heute würde man sagen, es geht darum, Haltung zu zeigen. Adorno hat eingewandt, dass Haltung keine ästhetische Kategorie ist. Entscheidend für ein Kunstwerk ist die Radikalität seiner Form, aber nicht die moralische Haltung des Künstlers. Das waren Debatten auf einem Niveau, das wir uns heute kaum noch vorstellen können.

STANDARD: Thesentheater oder Thesenliteratur sind heute im Namen der Wokeness hoch im Kurs. Warum?

Liessmann: Ich sehe darin etwas Verführerisches. Das Ästhetische hinterlässt bei allem Vergnügen den schalen Beigeschmack, es sei ja nur Kunst. Thesenkunst winkt dagegen mit dem Versprechen, nicht nur Kunst zu sein, sondern auch die Welt zu verändern. Das ist allerdings ein raffinierter Selbstbetrug. (INTERVIEW: Stephan Hilpold, 4.3.2023)

VIDEO: Konrad Paul Liessmann: "Als Student wollte ich Goethe canceln"
DER STANDARD