Massenproteste gab es in Paris auch am Mittwoch.

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Die Entscheidung naht: Nach wochenlangen Protesten mit Millionen von Demonstranten will Präsident Macron die Erhöhung des Pensionsalters von 62 auf 64 Jahre am Donnerstag durch das Parlament bringen. Der konservativ dominierte Senat (Oberhaus) hat in einem abgekürzten Verfahren bereits Ja gesagt.

In der Nationalversammlung sind die Macronisten hingegen mangels Ratsmehrheit auf die Stimmen der konservativen Républicains angewiesen. Und die zieren sich: Von ihren 61 Abgeordneten wollten bis zuletzt womöglich nur 40 für die Reform stimmen. Diese würde folglich nur etwa 285 Stimmen auf sich vereinen; eine Handvoll Stimmen würden fehlen, um in der 577-köpfigen Assemblée auf die Mehrheit von 289 Stimmen zu kommen. Mittwochabend meldete die Nachrichtenagentur AFP allerdings, dass es in einem parlamentarischen Vermittlungsausschuss eine Einigung auf einen Kompromiss gegeben habe. Hochspannung bis zum Schluss, also.

Die französische Verfassung, die das Parlament seit de Gaulles Zeiten als bloßes Werkzeug der Exekutive sieht, räumt dem Staatschef in Artikel 49.3 die Möglichkeit ein, eine Abstimmung über ein Projekt im Notfall zu umgehen. Um das Projekt durchzubringen, muss sich die Regierung dafür einer Vertrauensabstimmung stellen. Angesichts der chronischen Zerstrittenheit der Opposition wäre das für Macron eine kleinere Hürde.

Die Opposition von links bis rechts außen versucht deshalb, außerhalb des Parlaments Druck zu machen. Am Mittwoch sind am achten Aktionstag seit Jänner erneut Hunderttausende gegen die Reform auf die Straße gegangen. Innenminister Gérald Darmanin hatte 47 Polizeikompanien aufgeboten, da er offenbar Wind davon bekommen hatte, dass 1.400 gewalttätige Ultras des Schwarzen Blocks und Gelbwesten den Pariser Umzug unsicher machen wollten.

Müllberge in Paris

Das Ausmaß der Proteste zeigte sich auch in den Abfallbergen, die der Streik von Teilen der Müllabfuhr landesweit verursacht. In Paris stauen sich 7.000 Tonnen Müll. Die Touristen lassen sich ausnahmsweise nicht vor dem Eiffelturm, sondern mit zugehaltener Nase vor den Müllcontainern fotografieren. Die chronische Rattenplage der französischen Lichterstadt droht sich zur Epidemie auszuwachsen. Darmanin forderte die Bürgermeisterin Anne Hidalgo auf, städtisches Personal zur Kehrichtsammlung aufzubieten. Die Sozialistin denkt nicht daran: Sie unterstützt die Streikenden, wie es laut Umfragen die große Bevölkerungsmehrheit tut.

Die Frage, ob Macron Artikel 49.3 aktivieren muss, ist für die Fortsetzung von vorrangiger Bedeutung. Bringen seine Einpeitscher im Parlament doch noch eine knappe Mehrheit zusammen, hat seine unpopuläre Reform zumindest eine demokratische Legitimität. Muss der Staatschef hingegen die institutionelle Brechstange des Artikels 49.3 anwenden, dürften die Proteste nicht so schnell abreißen; vielmehr könnten sie sich radikalisieren.

Volksabstimmung möglich

Politisch verblieben den Reformgegnern noch zwei politische Mittel. Mit einer Klage vor dem Verfassungsgericht könnten sie einzelne Punkte der Reform – auch wenn vermutlich nicht das Pensionsalter 64 – anfechten. Linkenchef Jean-Luc Mélenchon und die Rechtspopulistin Marine Le Pen planen zudem Schritte, um eine Volksabstimmung zu erzwingen. Möglich macht dies eine Verfassungsrevision von 2008.

Die Hürden sind allerdings hoch: Erforderlich sind unter anderem 4,9 Millionen Unterschriften, also von zehn Prozent der Wahlberechtigten. Angesichts der breiten Ablehnung der Reform scheint dieses Vorhaben indes nicht völlig aussichtslos. Allein schon die Lancierung würde die Inkraftsetzung der Reform um mindestens neun Monate verzögern – mit Chancen, dass die Reform sodann zurückgewiesen würde.

Macron orchestriert die letzten taktischen Schachzüge in der Nationalversammlung aus dem Hintergrund. Gegen außen markiert er Gelassenheit: Am Donnerstag, während die Nationalversammlung über die Rentenreform und damit auch die politische Zukunft des Präsidenten selbst befindet, will er im französischen Außenministerium an den "Generalständen der Diplomatie" teilnehmen. Es dürfte der einzige Ort in Paris sein, wo es derzeit diplomatisch zu- und hergeht. (Stefan Brändle aus Paris, 16.3.2023)