Gerald Gartlehner (Bild) von der Donau-Uni Krems führt mit Tanja Stamm von der Medizinischen Universität Wien und dem Simulationsforscher Niki Popper von der Technischen Universität Wien das Forschungsprojekt "Being Equipped to Tackle Epidemics Right" (Better) durch.

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Wien – Die politische Aufarbeitung bzw. Ausschlachtung der Corona-Krise nimmt aktuell Fahrt auf. Allerdings beschränkt sie sich bisher vor allem auf Polemik und Schuldzuweisungen. Belastbares Zahlenmaterial für eine bessere Diskussionsbasis könnten unabhängige und transparente Evaluationen liefern. Die sind hierzulande aber noch nicht in Sicht. Durchgeführt werden sollten solche Studien von internationalen Experten und Expertinnen, zeigen sich österreichische Forscher im APA-Gespräch überzeugt.

Forschungsprojekt gestartet

Im Rahmen eines Anfang des Monats gestarteten Forschungsprojekts mit dem Titel "Being Equipped to Tackle Epidemics Right" (Better) wird sich ein Team um Tanja Stamm von der Medizinischen Universität Wien, Epidemiologe Gerald Gartlehner von der Donau-Uni Krems und den Simulationsforscher Niki Popper von der Technischen Universität Wien darum bemühen, die Grundlagen für sinnvolle Lehren aus den Abläufen in der Pandemie zu schaffen. Dabei konzentriert man sich unterstützt vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds (WWTF) in den kommenden drei Jahren auf Analysen zu Niederösterreich und Wien. "Wir liefern aber keine Maßnahmen-Evaluation", betonten die drei Wissenschafter.

Interessenkonflikte

Für eine echte, unabhängige Analyse der Abläufe in Österreich bräuchte es nach der Ansicht der Experten eine unvoreingenommene Gruppe aus ausländischen Wissenschaftern. So haben sowohl Gartlehner als auch Popper etwa die Massentestungen in Österreich vor Weihnachten 2020 oder die dann zurückgenommene Impfpflicht durchaus kritisch kommentiert. Eine Beteiligung an einer Evaluation dazu sei dann natürlich ausgeschlossen, wie die beiden betonen.

Mit einer internationalen Expertengruppe wären Interessenkonflikte weitestgehend ausgeschlossen. Diese könnte sich laut dem Epidemiologen und dem Simulationsforscher "sauber getrennt" ansehen, welche Daten und welchen Informationsstand man zu welcher Pandemie-Epoche hatte, welche Organisations- und Infrastrukturprozesse initiiert und welche Maßnahmen-Entscheidungen dann getroffen wurden. Die Schweiz hat das so gemacht. Die Frage für Österreich sei, "ob das jemals passieren wird", zeigte sich Gartlehner skeptisch.

Popper: Aktuell "sehr emotionale" Diskussion in Österreich

Dabei könne sich durchaus zeigen, dass manche Entscheidungen sehr evidenzbasiert und wieder andere davon komplett losgelöst getroffen wurden. Allerdings hätte man dann eine Einschätzung dazu abseits der Austro-Brille mit ihren mannigfachen emotionalen Verflechtungen.

Aktuell laufe die Diskussion hierzulande "sehr emotional", so Popper. Menschen, Institutionen und Parteien würden vielfach versuchen, Schuldige zu benennen und sich Bestätigungen dafür zu holen, dass man es immer schon besser wusste. Unter diesen Umständen – und ohne belastbare, objektive Aufarbeitung – sehen Stamm und Gartlehner durchaus die Gefahr, dass "Tribunale" abgehalten werden und nur auf politisches Kleingeld geschaut wird.

Erst am Mittwoch hat die FPÖ im Nationalrat einen Corona-Untersuchungsausschuss beantragt. Die Freiheitlichen wollten sämtliche Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Pandemie zwischen 7. Jänner 2020 und 28. Juni 2022 unter die Lupe nehmen, blieben damit unter den Fraktionen aber allein. Der Antrag wurde abgelehnt.

Stamm: "Da ist schon die Frage, wo das in der Medizin dann hinführt"

Alle drei Forscher haben Sorge vor einer noch stärkeren "Diskreditierung" der ohnedies in Österreich schon mit viel Skepsis beäugten Wissenschaft. Und: Für eine Gesellschaft entstehen durchaus große Folgeprobleme, wenn nun etwa die Diskussionen um das politisch motivierte Ende der Werbung für die Covid-19-Impfungen in Niederösterreich Schule macht und dann Menschen vielleicht auch andere Impfungen auslassen. Da schlage die latente Wissenschaftsskepsis über Umwege in eine Gefahr für das Gesundheitssystem um, so Stamm: "Da ist schon die Frage, wo das in der Medizin dann hinführt."

Gespräche mit Maßnahmengegnern geplant

Daher gelte es auch mit Fakten beispielsweise aus dem Better-Projekt dem laut Popper drohenden Eingehen des zarten Pflänzchens der "evidenzbasierten Entscheidung" etwas entgegenzuhalten. In einer ersten Projektphase werde man auch intensiv den Kontakt mit der Bevölkerung suchen. In Interviews möchte man herausfinden, was den Menschen in der Pandemie wichtig war, was ihnen zu schaffen gemacht hat und woran sich gutes Pandemiemanagement eigentlich orientieren sollte, so die Wissenschafter. Hier suche man auch den Austausch mit dezidierten Maßnahmengegnern.

Im Rahmen der Studie wolle man in der Folge mit "Was wäre, wenn"-Szenarien in den nahe beisammen liegenden und doch sehr unterschiedlichen Regionen Wien und Niederösterreich arbeiten, so Gartlehner. So möchte man mithilfe einer Erweiterung der agentenbasierten Simulation durchspielen, was in etwa geschehen wäre, "wenn manche Entscheidungen anders" oder Durchimpfungsraten da und dort höher gewesen wären.

Popper: "Die momentane Praxis des ideologiegetriebenen gegenseitigen 'Anpatzens' vielerorts ist absurd. Da muss man jetzt sehr aufpassen." Das "Lernen für die Zukunft" stehe daher im Vordergrund des Better-Projekts. Am Ende sollte man besser wissen, was in Pandemiesituationen tatsächlich erwünschte signifikante Veränderungen mit sich bringt.

Gartlehner: "Der zweitbeste Zugang"

Zu hinterfragen sei durchaus auch der Fokus auf die Intensivbettenkapazitäten als meist einzige Zielgröße bei der Maßnahmenplanung. So wisse man bis heute zu wenig über mögliche andere wichtige Orientierungsfaktoren, wie etwa das Funktionieren der Versorgung chronisch kranker Menschen im Hausarzt-Bereich auch in Lockdowns. Ebenso wenig bekannt ist über die psychosozialen Folgen – "auch weil es hier zum Teil keine guten Daten gibt", betonte Stamm.

Die Wissenschafter bedauern, dass man hierzulande während der Hochphasen der Pandemie zum Beispiel nicht systematisch verglichen hat, was etwa die früheren Öffnungen in Vorarlberg gebracht haben oder was die Auswirkungen von nach Bundesländern unterschiedlichen Schulschließungen gewesen wären. Vieles davon müsse man nun nachträglich modellieren und simulieren, monierte Gartlehner: "Das ist zumindest der zweitbeste Zugang." (APA, red, 30.3.2023)