Die Erwartungen an das von Herzog & de Meuron erbaute Museum M+ für visuelle Kunst sind in Hongkong hoch.
Foto: Kevin Mak / Courtesy of Herzog & de Meuron

Jugendliche liegen auf dem Rasen, lokale Indie-Bands geben ein Konzert. Radfahrer nützen die nagelneuen Asphaltwege, die sich durch die Parklandschaft schlängeln. Auf der anderen Seite der Bucht leuchtet die Skyline Hongkongs. Umgekehrt ist von West Kowloon primär die enorme LED-Fassade des Museums M+ zu sehen, die mit einer bunten Videoarbeit von Pipilotti Rist bespielt wird.

Das Museum für visuelle Kultur ist eine von fünf neuen Großeinrichtungen, die seit 2018 im West Kowloon Cultural District eröffnet wurden. Dazu zählen auch ein Opernhaus, ein Theaterkomplex sowie das Palace Museum für chinesische Artefakte aus Peking. Der neue Bezirk gilt als das Prestigeprojekt der Sonderverwaltungszone.

Kaum zu glauben: Vor 15 Jahren war dieser Teil der Metropole noch karges Niemandsland und stand teils unter Wasser. Weitere Institutionen werden demnächst noch folgen, der 23 Hektar große Park soll öffentlich zugänglich und mit direkten Fähren von der zentralen Insel aus erreichbar sein. Man rühmt sich, eines der größten Kulturprojekte der Welt realisiert zu haben.

Marketing gegen Touristenmangel

Dahinter steckt eine ausgeklügelte Marketingstrategie, die im März mit dem Motto "Hello Hong Kong" zu einer Art Week rund um die Kunstmesse Art Basel Hong Kong lockte. Erstmals nach dreijährigem Lockdown empfing man wieder internationales Publikum. Eine Erleichterung für die Stadt, die extrem unter dem Touristenmangel leidet. Dieser wurde stark durch die Covid-Krise befeuert, aber auch schon davor durch die ausgeweitete Kontrolle seitens Peking sowie die damit verbundenen Unruhen beeinträchtigt.

Als Finanzzentrum bekannt, galt Hongkong lange Zeit als kulturelle Wüste. Dieses Image wolle man mit dem neuen Projekt ändern, heißt es von Sprechern. Allem voran erhofft man sich dies durch das M+, das allein durch die aufregende Architektur des Büros Herzog & de Meuron für Aufmerksamkeit sorgt. Die weitläufigen Galerien können zeitgleich sechs große Ausstellungen beherbergen.

Hingucker am Victoria Harbour: das Museum M+ im West Kowloon Cultural District.
Foto: Virgile Simon Bertrand / Courtesy of Herzog & de Meuron

Herzstück M+ Sigg Collection

Inhaltliches Herzstück ist die Schenkung des Schweizer Sammlers und Ex-China-Botschafters Uli Sigg, der dem Museum 1.500 Werke vermachte. Die M+ Sigg Collection gilt als eine der größten Sammlungen zeitgenössischer Kunst aus China und umfasst u. a. Werke von Fang Lijun, Song Dong und Ai Weiwei.

Das sonstige Programm ist breit gefächert: Neben einer Yayoi-Kusama-Retrospektive, die danach ins Guggenheim nach Bilbao reist, und einer Arbeit des NFT-Künstlers Beeple sind Design und Architektur aus Asien zu sehen. Direktorin Suhanya Raffel zeigt lokale Gegenwartskunst wie Biennale-Künstlerin Angela Su und setzt neben dem Fokus auf Asien "and beyond" zugleich verstärkt auf internationale Leihgaben. Stichwort: kultureller Austausch.

Herzstück ist die Schenkung des Schweizer Sammlers und Ex-China-Botschafters Uli Sigg, der dem Museum 1.500 Werke vermachte.
Foto: Lok Cheng / Courtesy of M+, Hong Kong

Lückenfüller und Gamechanger

Die Erwartungen an diese Einrichtung sind jedenfalls immens. Sie wird mit Kalibern wie der Londoner Tate Modern verglichen und als "Gamechanger" für die dortige Kunstszene gehandelt. Hauptaufgabe des M+ wird es sein, eine inhaltliche Lücke zu füllen – bisher gibt es keine vergleichbare Institution für Gegenwartskunst in ganz Asien.

Es geht auch darum, ein Bewusstsein für und ein Wissen über visuelle Werke zu schaffen. Vor allem lokale Kunstschaffende sollen davon à la longue profitieren, heißt es. Die Szene wächst langsam, wie kleinere Kunsträume und Ausstellungshäuser beweisen. Dennoch ist Hongkong bisher als Kunstmarkt, nicht aber als kreativer Hotspot bekannt. Der Tenor: Je besser das Verständnis für (zeitgenössische) Kunst ist, desto besser wird sich auch das Ökosystem für Kunst entwickeln.

So darf Nacktheit: Japanische Ikone Yayoi Kusama wird im M+ gefeiert.
Foto: Lok Cheng / Courtesy of M+, Hong Kong

Politischer Einfluss?

Doch wie steht es um die politische Einflussnahme auf solche Kultureinrichtungen? Immer wieder betont man, dass die Häuser in West Kowloon im Unterschied zu älteren Kunsteinrichtungen wie dem Hong Kong Museum of Art nicht staatlich sind. Lediglich mit einer saftigen Finanzhilfe von der Stadtregierung ebnete man 2008 den Weg, der weitere Erhalt ist ihnen überlassen. Darauf ist man sichtlich stolz.

Inhaltlich bestehe im M+ weiterhin kuratorische Unabhängigkeit, bekräftigt Suhanya Raffel, es gebe trotz der Einführung des Nationalen Sicherheitsrechts 2020 keine spürbare Einflussnahme seitens Peking. Dennoch betont sie, dass man als öffentliches Museum nicht über dem Recht stehe. Im Falle eines Eingriffs würde man sich also fügen.

Tai Kwun 大館

Wo die Zensurgrenze liegt

In den Ausstellungen äußert sich das bisher so, dass kritische Kunstwerke gezeigt werden, ohne aber deren Präsenz an die große Glocke zu hängen. So geschieht es im M+ mit einer großen Installation von Ai Weiwei – und genauso in dem 2018 eröffneten Tai Kwun Contemporary. Dass die dortige Schau Myth Makers LGBTQ+-Themen in der zeitgenössischen Kunst behandelt, wird weder auf Plakaten noch im Folder angegeben, sondern lediglich in der Ausstellung des Art Space selbst. Dort erhält man dafür ausführliche Auskunft über zensierte Filme, die wegen sexueller oder nackter Inhalte entweder stellenweise geändert, anders präsentiert oder ganz gestrichen werden mussten. Und auch Para Site, einer der ältesten Kunsträume Hongkongs, macht transparent, dass er zwar von der Stadtregierung gefördert werde, sich dies aber nicht inhaltlich widerspiegle.

Von offizieller Seite wird stets besänftigt, immerhin habe es noch keine politischen Eingriffe gegeben. Hinter vorgehaltener Hand fürchtet man sich aber sehr wohl vor strengen Maßregelungen. Dass die Phase des unbekümmerten Aufblühens weiter andauert, ist nur zu hoffen. (Katharina Rustler aus Hongkong, 12.4.2023)