Lebensmitteltrends sollte man nicht überbewerten. Ein "Wundermittel" gibt es nicht, sagt der Toxikologe Georg Aichinger.
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Von Avocado bis Goji-Beere: Immer wieder werden Nahrungsmittel zu angeblichen "Superfoods" hochstilisiert. Georg Aichinger von der ETH Zürich kritisiert diesen Trend: Viele der zugeschriebenen Wirkungen seien nie in Humanstudien nachgewiesen worden, betont er. Gleichzeitig würden wissenschaftliche Ergebnisse oft missverständlich dargestellt.

Vor einigen Jahren hatten wir die Goji-Beere bereits in einem Video genauer unter die Lupe genommen
DER STANDARD

STANDARD: Sie sagen, dass die Darstellung von Erkenntnissen der Lebensmittelwissenschaften oft missverständlich ist. Was wäre ein Beispiel?

Aichinger: Vor kurzem gab es einen Bericht, wonach Mandeln den oxidativen Stress in Muskeln und damit negative Trainingsfolgen wie Muskelkater reduzieren. Beim Training braucht es aber ein gewisses Maß an oxidativem Stress für den Muskelaufbau. Ich kann mir also gut vorstellen, dass auch der Trainingseffekt durch die Mandeln verringert wird. Zu schließen, dass der Effekt jedenfalls positiv sei, ist also zu weit gegriffen. Das steht exemplarisch für viele Missverständnisse in der Darstellung von Lebensmittelwissenschaften. Auch deshalb wird die Studienlage oft als widersprüchlich wahrgenommen.

STANDARD: Ein Dauerbrenner in puncto widersprüchliche Studienergebnisse ist der Wein. Was soll man da glauben?

Aichinger: Wein ist ein gutes Beispiel. Hier wird etwa die gesundheitliche Wirkung von Anthocyanen diskutiert – roten Farbstoffen, die auch in vielen Beeren vorkommen. Aus Zellstudien weiß man seit langem, dass sie antioxidativ wirken. Das klingt gut, gesund und verkauft sich gut. Bei der Frage, wie die tatsächliche Wirkung im menschlichen Körper aussieht, wird die Datenlage aber viel dünner. Ähnlich ist es mit Resveratrol, dem ebenfalls die tollsten Effekte nachgesagt wurden. Es ist aber absolut nicht gesichert, dass diese und ähnliche Stoffe tatsächlich gesundheitsfördernd wirken. Und selbst wenn eine positive Wirkung da ist, hat man noch immer die – viel größere – toxische Wirkung des Alkohols.

Rotwein werden viele positive Eigenschaften nachgesagt. Wenn da nicht der Alkohol wäre...
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STANDARD: Warum stehen gerade Antioxidantien oft im Zentrum der Aufmerksamkeit?

Aichinger: Sie sind sehr wichtig für den Körper. Sie schützen Zellen vor reaktiven Abbauprodukten, die über den Stoffwechsel entstehen, etwa Sauerstoffradikale. Viele Antioxidantien produziert der Körper selbst. Er hat ein komplexes, molekular verkettetes System entwickelt, um die Produktion jederzeit hochfahren zu können. Wenn Zellen registrieren, dass oxidative Stoffe anwesend sind, schalten sie dieses System ein. Ansonsten würden sie Proteine oder sogar die DNA angreifen.

STANDARD: Warum brauche ich dann überhaupt Antioxidantien in Lebensmitteln?

Aichinger: Wir müssen Vitamin C und andere antioxidativ wirksame Vitamine zuführen, die der Körper nicht selbst bereitstellen kann. Man kann aber darüber streiten, ob davon abgesehen zusätzliche Antioxidantien in Lebensmitteln eine positive Wirkung haben. Die Idee ist, dass man damit oxidativem Stress vorbeugen kann. Wenn die schädlichen Stoffe überhandnehmen und das zelluläre Abwehrsystem überwältigen, sollen zusätzliche Antioxidantien den Effekt abmildern.

Toxikologe Georg Aichinger
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STANDARD: Ist es legitim, dass damit auf Nahrungsmittelverpackungen geworben wird?

Aichinger: Ich glaube, es wird von der Industrie oft unverhältnismäßig stark betont. Wenn der Effekt in Humanstudien nachgewiesen wurde, ist es legitim. Es ist aber sicher oft so, dass die Behauptung einer antioxidativen Wirkung nur auf Zellstudien basiert. Sicherheit geben die Health-Claims der EU. Unternehmen können hier "gesundheitsbezogene Angaben zu Lebensmitteln" registrieren und überprüfen lassen. Darüber weiß aber kaum jemand außerhalb der Wissenschaftswelt Bescheid. Es wäre wichtig, dass sich Konsumenten in diesen Bereichen bilden. Man muss sich dessen bewusst sein: Wenn "antioxidativ wirksam" draufsteht, dann impliziert das noch nicht einen gesundheitsfördernden Effekt.

STANDARD: Warum reichen Zellstudien nicht aus, um eine Gesundheitswirkung festzustellen?

Aichinger: Wenn ich einen Effekt in der Zellkultur finde, heißt das noch lange nicht, dass dieser auch im Körper relevant ist. Schon die Konzentrationen sind dort ganz andere. Es braucht Studien, die die Toxiko- und Pharmakokinetik untersuchen – also alle Prozesse, die von der Aufnahme des Stoffes bis zu seiner Ausscheidung im Körper passieren. Dazu gehören etwa die Geschwindigkeit der Aufnahme, der Metabolismus in Leber und Darm oder die Verteilung der Substanzen im Gewebe. Es gibt inzwischen Ersatzmethoden zu Tierstudien, bei denen versucht wird, die Prozesse im Körper durch kombinierte Labor- und Computerstudien nachzubilden – das ist auch jener Bereich, an dem ich selbst arbeite.

STANDARD: Worum geht es dabei?

Aichinger: Ich arbeite an einem Projekt im Bereich des "Physiologically-based pharmacokinetic (PBPK) modeling". Das Ziel ist, einen Übersetzungsmechanismus zwischen Zellkulturen und Humanexperimenten zu entwickeln. Die Modelle simulieren die Verarbeitung der Substanz im Körper über eine bestimmte Zeit. Man gibt beispielsweise die Zellstudien-Ergebnisse zur antioxidativen Wirkung einer Substanz ein und kann automatisch errechnen, welche Konzentrationen man aufnehmen müsste, um eine Wirkung im Menschen zu erzielen.

STANDARD: Wie entsteht so ein Rechenmodell?

Aichinger: Im Prinzip baut man im Computer einen simulierten Menschen zusammen. Das beinhaltet die Physiologie, die Organe, das Blutvolumen und andere Aspekte. Zudem integriert man die Eigenschaften der zu untersuchenden Substanz. Zum Beispiel ist die Fettlöslichkeit wichtig, weil sie die Verteilung in den verschiedenen Gewebetypen wesentlich mitbestimmt. Eine Reihe von Parametern muss man zuerst im Labor messen, um sie im Modell berücksichtigen zu können. Heute braucht man zudem noch Daten aus tatsächlichen Tier- und Humanstudien, um die Ergebnisse der Algorithmen zu überprüfen.

STANDARD: Wie könnte man Ihrer Meinung nach die öffentliche Wahrnehmung der Lebensmittelforschung verbessern?

Aichinger: Gefühlt wird in den Medien jede Woche ein neues Superfood präsentiert. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden dabei oft missverständlich oder stark zugespitzt präsentiert. Das lässt die Forschung beliebig wirken. Man hat das Gefühl, die Wissenschaft sagt jede Woche etwas anderes. Das ist aber nicht der Fall. Ein Weg könnte sein, dass Wissenschafter sich vermehrt direkt an ein Publikum richten – etwa in Blogs. Ich denke, das Interesse wäre da. Als Konsument sollte man jedenfalls beim Ausdruck Superfood vorsichtig werden. Er impliziert, dass es ein Wundermittel geben könnte, das in jedem Fall positiv wirkt. So etwas gibt es in Wahrheit nicht. (Alois Pumhösel, 17.4.2023)