Dieser Anblick erhitzt die Gemüter: eine Dragqueen, die aus einem Kinderbuch vorliest.

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Die Events sind bisher nur ein Randphänomen in Österreich, die Reaktionen darauf allerdings heftig: Dragqueens, die Kindern (sechs bis zwölf Jahre) altersgerechte Bücher vorlesen. Erst am Sonntag kam es in Wien wieder zu Protesten vor einem LGBTQI-Beratungszentrum und einem Kinderbetreuungshaus, wo ein solches Event für Eltern und Kinder stattfand.

FPÖ-Chef Dominik Nepp hat Anfang März sogar ein Verbot solcher Veranstaltungen gefordert. Er bezeichnet die Lesungen als Sexualisierungspropaganda für kleine Kinder. Er warnt vor Frühsexualisierung und argumentiert mit den Jugendschutzbestimmungen.

DER STANDARD war im März bei einer Lesung von Dragqueen Candy Licious dabei
DER STANDARD

Können Dragqueen-Events Kindern wirklich schaden? Der STANDARD hat zwei Expertinnen aus dem Kinder- und Jugendschutzbereich um eine Stellungnahme gebeten.

"Im schlimmsten Fall probiert der kleine Bub danach auch einmal ein Kleid an."

Caroline Culen ist Psychologin und Geschäftsführerin der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit.

"Erwachsene sehen Dragqueens und denken dabei schnell an Sexualität. Schließlich spielen Drags mit der Geschlechteridentität und treten häufig freizügig gekleidet auf. Kindern ist der Kontext von Sexualität, wie wir sie als Erwachsene verstehen, aber völlig fremd. Es gilt daher, Dragqueens aus Kinderaugen zu betrachten: Es sind wild geschminkte, bunt angezogene Menschen. Ohne jegliche Beurteilung.

Sicher, jedes Kind ist anders. Deswegen können Dragqueens auf Kinder interessant, lustig oder beängstigend wirken. Genau wie ein Polizist in Uniform oder eine Geschäftsfrau in einem grauen Hosenanzug. Ähnlich ist es mit Clowns im Zirkus: Die sollten lustig sein, dennoch fürchten sich manche Kinder vor ihnen.

Kindern geht es nicht um Optik. Wichtig ist für sie, ob die Person einfühlsam, offen oder nett ist. Wenn ja, wird das Kind Freude am Event haben. Egal, ob Dragqueen oder nicht. Kinder nehmen die Welt aber erst einmal durch die Augen ihrer Eltern wahr. Wenn Eltern mit ihren Kindern freiwillig ein Dragqueen-Event besuchen, dann werden sie im Vorfeld bestimmt darüber gesprochen haben. Empfinden die Eltern etwa eine Lesung durch Dragqueens als positiv, dann überträgt sich das automatisch auf die Kinder.

Kinder können dann in einen Solidaritätskonflikt geraten, wenn etwa eine Veranstaltung in einer Schule abgehalten wird, von der die engen Bezugspersonen zu Hause nichts halten. Solche Konfliktsituationen gibt es im Leben der Kinder immer wieder. Deswegen sollten sich Bildungseinrichtungen und auch Eltern fragen, was denn für das Kind in diesem Fall wichtig ist, und gemeinsam zu einer Lösung kommen, ob es teilnehmen soll oder nicht.

Dass Kinder durch eine Veranstaltung mit Dragqueens traumatisiert werden könnten, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Zumindest widerspricht es der klassischen Definition, wie ein Trauma entsteht. Ein seelisches Trauma entsteht durch eine Situation, die als unkontrollierbar und lebensbedrohlich erlebt wird. Das erscheint mir bei einer solchen Veranstaltung ausgeschlossen.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht befassen sich Kinder üblicherweise erst mit beginnender Pubertät mit Identitätsfragen. Eine Lesung wird ein Kind in seiner Geschlechteridentität nicht maßgeblich beeinflussen. Am Ende fühlt sich der Bub höchstens darin bestärkt, sich zum Fasching als Prinzessin zu verkleiden oder einmal Nagellack auszuprobieren. In liberalen Familien und bei Popstars ist das heute aber ohnehin kein Thema mehr."

"Es gibt auch keine wissenschaftlichen Hinweise darauf, dass Kinder homosexuell, trans oder queer werden, wenn sie etwas darüber lernen."

Petra Birchbauer ist Psychologin und Vorsitzende im Bundesverband Österreichischer Kinderschutzzentren.

"Bei solchen Veranstaltungen mit Dragqueens von 'Frühsexualisierung' zu sprechen ist nicht richtig. Was heißt das denn? Dass Kinder zu früh über Sexualität Bescheid wissen? Davor brauchen wir keine Angst haben.

Aus dem Kinder- und Jugendschutz wissen wir, dass eine altersangemessene Sexualerziehung bereits im Kleinkindalter beginnt. Sie ist eine wesentliche Prävention gegen sexuellen Missbrauch. Es gibt auch keine wissenschaftlichen Hinweise darauf, dass Kinder homosexuell, trans oder queer werden, wenn sie etwas darüber lernen.

Was aber sehr wohl geprägt wird, ist unsere Haltung: Wenn Kinder etwa Diversität früh kennenlernen, fällt es ihnen leichter, diese einzuordnen. Das macht keine Angst, sondern nimmt sie.

Queere Events oder diverse Kinderbücher sind vor allem für jene Kinder relevant, die vielleicht selbst in queeren Familien aufwachsen oder Freunde und Familie haben, die queer sind. Solche Events schaffen ja auch Sichtbarkeit in unserer Gesellschaft.

Bei jüngeren Kindern sollten Eltern immer dabei sein, um auch im Anschluss an diese Veranstaltungen etwaige Fragen von Kindern beantworten zu können.

Eltern und Kinder, die freiwillig Dragqueen-Lesungen besuchen, dürfen nicht abgewertet oder angegriffen werden. Demonstrationen und Polizeiaufgebot können tatsächlich traumatisierend für die Kinder sein." (Nadja Kupsa, 17.4.2023)