Laut Kalender sollte an diesem Tag längst der Frühling den Ton angeben. Die Graupelschauer pfeifen drauf und fegen wie Mini-Tornados durch die leeren, traurig wirkenden Gastgärten auf der Mariahilfer Straße. Unweit des Museumsquartiers, auf einer nicht gerade kleinen Baustelle, dort, wo einst das Möbelhaus Leiner untergebracht war, wird gebohrt, gehämmert und anderer Lärm gemacht. Kräne hieven gewaltige Teile durch den mausgrauen Himmel. Gleich um die Ecke wohnt Christof Stein mit seiner Familie in einem in Aida-Rosa gestrichenen Haus.

Christof Stein und Elisabeth M. Gottfried haben die ehemalige Wohnung der Großmutter liebevoll renoviert.
Foto: Katharina Gossow

Mit hochgestelltem Kragen fragt man sich auf dem Weg dorthin, wie wohl einer hausen mag, der seit Jahrzehnten fixer Bestandteil der Möbelszene ist, der Mitbegründer des legendären Vintage-Stores Lichterloh war, als Gerichtsverständiger für Vintage-Einrichtung arbeitet und zu diesem Thema auch im Fernsehen auftritt. Gleich vorweg: Eine gewisse Erwartungshaltung wird alles andere denn enttäuscht. Bereits beim Eintreten in die Wohnung wird klar, hier taucht man in eine Wunderkammer ein, die Geschichten erzählt. Vom Leben und von Dingen.

Ein Haus wie ein Dorf

Doch spulen wir zurück zum Hauseingang, wo bereits die erste Geschichte ihren Anfang nimmt. Eine Tafel erinnert an eine Maria Anna Vichterin Freiin von Grueb, welche in ihrem Testament vom 11. 1. 1723 ihr Vermögen der Errichtung einer Stiftung für Kinder gewidmet hat. Das Gebäude, ein typisches Gründerzeithaus, um 1875 errichtet, ist bis heute ein Stiftungshaus. "Die Mieten der gut 25 Parteien kommen noch immer bedürftigen Kindern zugute. Uns freut das. Jahr für Jahr", sagt Christof Stein, der hier mit der Kunsthistorikerin Elisabeth M. Gottfried und den Buben Emil, Vito und Stanislaus lebt.

Besondere Stücke, wohin das Auge auch blickt. Sie finden sich im Zuhause von Elisabeth M. Gottfried und Christof Stein vom Boden bis zur Decke.
Foto: Katharina Gossow

"Das Haus ist wie ein kleines Dorf, dessen Bewohner gut miteinander auskommen. Kein einziger Giftzeh wohnt hier", meint Stein. "Hier gibt es einen Violinisten genauso wie einen bekannten DJ. Auch ein Hausmeister-Ehepaar tut noch immer Dienst", ergänzt Elisabeth M. Gottfried. Christof Stein ist 1985 eingezogen, seine Wurzeln reichen dieserorts aber viel weiter zurück. Bereits seine Großeltern lebten in der 160 Quadratmeter großen Mietwohnung. Ursprünglich stammt seine Familie aus dem Sudetenland, Steins Urururgroßvater war Gründer der berühmten Brauerei Pilsner Urquell. Weiterer Stoff für eine (andere) Geschichte.

"Die Wohnung meiner Großeltern war wie aus einem Guss. Da gab es ein Herrenzimmer, einen Biedermeiersalon, alles war sehr historisch", erzählt Stein, der auch Inhaber der Uhrenmarke Normalzeit ist. Dabei handelt es sich um Armbanduhren, die sich vom Entwurf her an der berühmten Wiener Würfeluhr von 1907 orientieren. Auch so eine Geschichte von und über die Zeit.

In der Wand (links) wurden Spindtüren aus dem Krapfenwaldbad verbau; rechts die Küche, eine Mischung aus Rustikal- und Industrie-Chic.
Foto: Katharina Grossow

Omas Freibrief

Als Steins Großmutter mit über 90 Jahren ihrem Enkel eröffnete, dass er das gesamte Interieur erben solle, meinte dieser leicht nervös, er würde vieles in der Wohnung so nicht haben wollen und einen gehörigen Teil verkaufen, ihr aber gleichzeitig versprechen, dass er den Erlös in die Wohnung investieren würde. "Die Großmutter willigte ein und gab mir gewissermaßen einen Freibrief. Schon damals habe ich gelernt, dass Wohnen auch mit Loslassen zu tun hat. Sagt einer, dessen Leben und Wohnen vollgestopft ist mit Dingen, ganz kleinen, aber auch großen. Und Kunst, viel Kunst.

Der Besuch im überdimensionalen Setzkasten fühlt sich ein wenig an, als stecke man seine Nase in einen historischen Roman. Nur halt 3D. Und lebendiger. Und null verstaubt. Keine Stilrichtung ist dominant. Keine Epoche. Die Augen bekommen einiges zu tun beim Wohnungsrundgang. Neugierig wandern die Blicke von Ding zu Ding, spazieren durch Wohn- und Zeitwelten, mal großzügig bürgerlich anmutend, dann wieder kojenhaft gemütlich.

Im Wohnzimmer mit viel Holz findet sich eine charmante Arbeitsecke von Elisabeth M. Gottfried, Möbel des dänischen Designers Børge Mogensen, ein gemauerter Kamin und ein großer, alter Ölschinken, der den Kampf der Amazonen darstellt und Steins Blut als Pubertierender in Wallung brachte, wie er schmunzelnd erzählt. "Ich habe das Bild restaurieren lassen. Es war in marodem Zustand. Am Ende des Krieges hat sich eine Kugel darin verirrt. Wahrscheinlich eine russische." Auch keine schlechte Story, so wie die Tatsache, dass Stein unter anderem eine Ausbildung als Fußballschiedsrichter absolvierte.

Links das Bad mit muschelartiger Wanne, dahinter das Schlafzimmer mit einem Bett von Kiki Kogelnik. Von dort führt eine Tür in den "Jugendtrakt". Rechts die Arbeitsnische im Wohnzimmer.
Foto: Katharina Grossow

Spindtüren aus dem Krapfenwaldbad

Im Esszimmer sticht ein massiver Ess- und Arbeitstisch aus 16 verschiedenen Hölzern ins Auge, ferner Sessel aus der Feder des Architekten Roland Rainer, Leuchten aus den 50ern, ein Sessel des legendären und von Stein verehrten Josef Frank, ein Prototyp der Leuchte Bulb von Ingo Maurer, auch ein Piano. Die skandinavische Teakholz-Bar aus den 60ern lässt an Filme mit Peter Alexander oder Lieselotte Pulver denken. Darüber Stuck, wie er sich einst gehörte.

In die Küche, ein vollgeräumter Mix aus Industrie-Chic und rustikaler Landküche, dringt Helligkeit aus blau gefärbten Oberlichten. Die Gläser stammen von einstigen Kirchenfenstern. Eine frühere Besenkammer wurde zur offenen Speis umfunktioniert, und in der Garderobe, gleich nebenan, dient ein Hirschgeweih als Hutständer für allerlei Kopfbedeckungen.

Nun gut, derlei Kurioses taucht auch in anderen, wenn auch nicht alltäglichen Bleiben auf. Wie aber steht es mit elf alten hölzernen in die Wand eingelassenen Spindtüren aus dem Wiener Krapfenwaldbad, einem Bett der Künstlerin Kiki Kogelnik, Türgriffen aus dem ehemaligen Messepalast oder weißen Fleischerhaken, an denen Handtücher und Bademäntel hängen? Beim Anblick der geräumigen Badewanne, die an die Muschel auf Botticellis Gemälde der Venus denken lässt, fallen einem die Graupelschauer wieder ein, und man bekäme Lust …

Unter einem Himmel aus Stuck wird gelesen, gechillt, aber auch gearbeitet oder der Rummel auf der Mariahilfer Straße beobachtet. Wohnen ist für Stein und Gottfried etwas Großes und Ganzes, das aus seinen kleinsten Teilen gewachsen ist und nicht kopierbar ist.
Foto: Katharina Gossow

Trotz all der Dinge, der großen wie kleinen, versteht sich Stein angesichts dieses Sammelsuriums nicht als Sammler im Sinne eines Aufhebers. Wenn er Dinge aussortiert, fühle sich das an, als würde die Wohnung um einige Kilo abnehmen. Man darf allerdings davon ausgehen, dass sie diese auch wieder zunimmt. Apropos abnehmen: "Wenn unser Größter hier eine Party veranstaltet, bitte ich ihn, lediglich eine Liste von den Dingen anzufertigen, die beim Feiern kaputtgehen. Das ist mir viel lieber als der Umstand, sie suchen zu müssen", sagt Stein, zwinkert und führt weiter durch die Weiten seines Daheims.

Freundliches Knarren

Das nächste Kapitel in Richtung Zeit- und Wohngeschichte beschreiben ehemalige Telefonzellentüren aus dem Justizpalast, die in einen begehbaren Schrank führen. Im oberen Teil der Türen sind Fenster in der Form kleiner Bullaugen eingearbeitet. Ihre Rückseiten sind gepolstert und mit Leder überzogen. "Zum Schallschutz vor ungebetenen Ohren", erklärt Stein. Auch nicht schlecht: der Klappsessel von Thonet, der einst dem Billeteur eines Kinos gute Dienste tat. Seine Geschichte erzählt heute ein freundliches Knarren beim Niedersetzen. Die Reihe der Schätze wäre noch lange weiterzuführen. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Munitionskiste der israelischen Armee aus dem Sechstagekrieg von 1967, in der seine Frau die von ihm an sie verfassten Liebesbriefe aufbewahrt, 25 an der Zahl?

Der Grundriss der Wohnung ist schwer zu fassen. Er wirkt, als hätte man ein paar überdimensionale Tetris-Quader zusammengefügt. Besonders verwinkelt wird es, wenn man die Bereiche betritt, die für die Jugend reserviert sind, wo sich diverse flexible Teile wie Schiebetüren aus Glas und Holz finden. Von hier aus lässt sich gut dem Treiben auf der Baustelle drüben beim ehemaligen Leiner zusehen. Es wirkt, als wäre diese ein lebendiges Wimmelbuch von Ali Mitgutsch.

Das restaurierte Ölgemälde, das den Kampf der Amazonen zum Thema hat, hängt im Wohnzimmer, wo es Christof Stein schon als Jugendlicher bewundert hat.
Foto: Katharina Gossow

"Wohnen bedeutet für mich erinnern. Bücher, Möbel und anderes stehen für Geschichten und Erinnerungen. Sie werden zu Bausteinen eines Zuhauses, sagt Elisabeth M. Gottfried, die ehemalige Inhaberin des Shops Gottfried & Söhne im Jüdischen Museum in Wien. Wohnen sei etwas Großes und Ganzes, gewachsen aus seinen kleinsten Teilen, ergänzt die Kunsthistorikerin, die es schon als Kind liebte, Flohmärkte zu besuchen.

Kein Problem mit Ikea

Auf die Frage, was die beiden von all dem mitnehmen würden, wenn sie – warum auch immer – über Nacht von hier fortmüssten, antwortet das Duo: "Die Kinder und eine warme Jacke. Sonst nichts." Wohnen, so Stein, stehe für Privates, für Dinge, die nicht kopierbar seien. "Dadurch gelingt es, an Möbeln und Dingen geistig und seelisch zu wachsen. Wohnen, das ist nichts Durchgestyltes, sondern ein Mix, lediglich ein Mix hält den Geist frisch." Mit Ikea hat Stein wider Erwarten kein Problem, allein deshalb, weil Stücke austauschbar seien. Und Austausch erachtet er als etwas Positives, vor allem wenn man mit Kindern lebe.

Mit anderen hierzulande ansässigen und heimischen Möbelhäusern und deren internationalen Rekorden in Sachen Verkaufsfläche geht der Fachmann strenger ins Gericht. Es sei unfassbar, was in Sachen Designbewusstsein in einem Land geschehen sei, das mehr oder weniger den Jugendstil und das Biedermeier erfunden hat, ehe es irgendwann in der Bedeutungslosigkeit versank. Die Leute hätten irgendwann aufgehört, über ihre nähere Umgebung nachzudenken. Deutschland sei uns im Großen und Ganzen meilenweit voraus. Das liege am Bauhaus, der Ulmer Hochschule für Gestaltung, aber auch an Designern wie Luigi Colani, Dieter Rams oder Wilhelm Wagenfeld. "Viele gute Geister aus Österreich sind einfach niedergedögelt worden. Denken Sie nur an den großen Gestalter Josef Frank." Die gute Nachricht zur hiesigen Entwicklung: Stein ortet Besserung.

Obwohl die Frage obsolet erscheint, will man zum Abschied dennoch wissen, ob die beiden an eine Seele von Dingen glauben. Auch darin ist sich das Paar einig. "Ja, absolut. Durch ihre Geschichte entwickeln Dinge eine Anziehungskraft, die bewegt. Ästhetik spiele dabei eine untergeordnete Rolle. Unser Zuhause ist nicht gestylt, sondern vielgeliebt, ein Konglomerat des Lebens." Als der Besucher nach dem Händeschütteln mit den Wohnseelsorgern wieder von Graupelschauerwolken eingehüllt seiner Wege geht, freut er sich besonders auf sein Daheim. Nicht nur wegen des Wetters, schließlich gilt es, der Seele der eigenen vier Wände ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Das ist übrigens – bei aller Bescheidenheit – durchaus eine Empfehlung. (RONDO, Michael Hausenblas, 7.5.2023)