Zu Beginn setzte es eine Schmach. Drei Tage sollte die "Spezialoperation" dauern, mehrere Divisionen russischer Luftlandetruppen (WDW) einer Speerspitze gleich in das Herz der ukrainischen Hauptstadt Kiew vordringen – und dort zu dem von Wladimir Putin gewünschten "Enthauptungsschlag" gegen Wolodymyr Selenskyjs Regierung ansetzen. Das schwarz-orange Sankt-Georgs-Band an ihren Helmen rief – von der Kreml-Propaganda wohlkalkuliert – zudem demonstrativ Erinnerungen an den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland wach.

Das Georgsband, hier links neben der Trikolore Russlands, gilt als Symbol des Sieges über Hitler – im Ukrainekrieg missbraucht es Putins Armee als Markierung ihrer Invasionstruppen.
Foto: Yuri KADOBNOV / AFP)

Freilich: Am Donnerstag zählten die Chronisten des Krieges bereits Tag 421. Und anstatt Kiew im Handstreich zu nehmen, erlitten die WDW gleich in den ersten Tagen des Krieges eine verheerende Niederlage: Ihr Plan, den Flughafen Hostomel vor den Toren Kiews mit Gewalt in eine Luftbrücke für einströmende russische Soldaten und Gerät zu verwandeln, wurde von den ukrainischen Verteidigern vereitelt. Die dort erlittenen Verluste belasten die einst so stolzen WDW bis heute. Nun könnte sich der blamierten Elitetruppe, die seit ihrer Gründung 1930 bei fast allen Militärinterventionen der Sowjetunion an vorderster Front eingesetzt wurde, die Chance auf eine Revanche bieten.

Neue Chance

Weil Russland in den vergangenen Monaten etwa in Bachmut vor allem auf die Söldnergruppe Wagner setzte, um die ukrainischen Verteidiger abzunutzen, sind es nun ausgerechnet die WDW, die erholt – und mit neuen, schwereren Waffen ausgestattet – zurück in den Fokus der Moskauer Kriegsstrategen rücken. Ihr Einsatz an der Nord- und Südflanke des umkämpften Bachmut brachte den erschöpften Wagner-Truppen die dringend benötigte Atempause, um die symbolisch wichtige Stadt im Donbass zu aktuell gut achtzig Prozent einnehmen zu können.

Der Tos-1-Raketenwerfer gilt als Russlands Wunderwaffe – nun verfügen auch die Luftlandeeinheiten darüber.
Foto: IMAGO/Russian Defence Ministry Press O

Zudem setzten die Luftlandetruppen Anfang April laut Berichten erstmals den gefürchteten Raketenwerfer Tos-1A Solntsepek in der Ukraine ein, der thermobarische Kurzstreckenraketen, also solche mit verheerender Spreng- und Brandkraft, abfeuert. "Dass die Luftlandetruppen nun diese neuen Fähigkeiten bekommen haben, ist ein klares Indiz dafür, dass sie in den kommenden Wochen und Monaten wieder verstärkt eine Rolle spielen dürften", sagt der Militäranalyst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie dem STANDARD.

Neue Gesichter für Putins Krieg

Weil Russlands Winteroffensive Putin kaum näher an seine vor fast 14 Monaten proklamierten Kriegsziele gebracht hat, holt dieser nun offenbar auch neue Gesichter auf die große Kriegsbühne. Sie sollen für den Kreml nun den Karren – buchstäblich – aus dem Dreck ziehen.

Ein Video, das die Kreml-Propaganda zu Beginn der Woche veröffentlichte, zeigte Präsidenten Putin in einer Kommandozentrale nahe Cherson nämlich demonstrativ Schulter an Schulter mit einem Mann, um den es zuletzt auffällig ruhig gewesen ist: Michail Teplinski, 54 Jahre alt und seit Sommer 2022 Kommandant der WDW. Seit kurzem ist er offiziell Stellvertreter des Ukraine-Oberkommandierenden Waleri Gerassimow – der selbst in dem Video nicht zu sehen ist.

Michail Teplinski, hier links neben Putin in der ukrainischen, aber russisch besetzten Region Cherson, gilt als Aufsteiger.
Foto: Pool Photo via AP

Teplinski, der sich schon in Transnistrien sowie in beiden Tschetschenienkriegen einen Namen als Kommandant machte, gilt als beliebt bei seiner Truppe wie auch unter Ultranationalisten – und als unbequemer Kopf, der sich kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er Missstände ortet. Auch Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin äußerte sich stets wohlwollend über Teplinski – während er etwa Verteidigungsminister Sergej Schoigu, aber auch Teplinskis Vorgesetzten Gerassimow mit Vorliebe öffentlich maßregelt.

Gebracht hat ihm das bis vor kurzem wenig: Im Zuge der Entmachtung von Ukraine-Kommandant Sergej Surowikin im Jänner wurde Teplinski allem Lob Prigoschins zum Trotz kaltgestellt – für die zu Beginn des Krieges so düpierten WDW schien plötzlich kein Platz mehr zu sein an Russlands Front.

Putins geschicktes Spiel

Dass er nun im Video von Putins Besuch in den besetzten Gebieten so eng an der Seite des Präsidenten präsentiert wird, bestätigt für Analyst Reisner, dass die Luftlandetruppen im Frühling wieder aktiv werden. "Es zeigt aber auch, dass Putin intern, also in seinen Machtstrukturen, signalisiert, dass er jederzeit auch auf jene Stimmen im Militär setzen kann, die in Opposition zum derzeitigen Kurs stehen."

Eine davon gehört Alexander Lapin. So wie WDW-Kommandant Teplinski wurde auch der hochdekorierte General erst vor ein paar Monaten durch ganz oben auf ein Abstellgleis verbannt – wenn auch nur für kurze Zeit. Nun, wo die von Gerassimow ersonnene Winteroffensive bis jetzt kaum Erfolge zeitigt, könnte ihm ein zweiter Frühling bevorstehen.

Alexander Lapin (re.), der Putin hier in einem Kommando-Standort nahe Luhansk begrüßt, dürfte nun ebenfalls wieder hoch in der Gunst des Kreml-Herrn stehen.
Foto: Pool Photo via AP

Der 59-Jährige, der Putins brutale Kriegsführung schon in Syrien zu exekutieren half und einst als dessen "Lieblingsgeneral" galt, stolperte als Kommandant der russischen Invasionstruppen im zentralen – und größten – Militärbezirk in der Ukraine, nachdem ihn Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow nach der ukrainischen Herbstoffensive öffentlich kritisiert hatte. Putin, hatte Kadyrow damals gefordert, solle Lapin zum einfachen Soldaten degradieren.

Intimfeind von Prigoschin

Dass dieser kurz zuvor noch als "Held der Russischen Föderation" ausgezeichnet wurde, weil er im Mai den erfolgreichen – und folgenreichen – Durchbruch bei Popasna befehligt hatte, schien da längst vergessen. Und auch Wagner-Chef Prigoschin schoss sich nach dem fluchtartigen Rückzug von Lapins Truppen aus Lyman auf den gefallenen "Helden" ein: Er würde den General ganz einfach "mit einem Maschinengewehr und barfuß" an die Front schicken, polterte Prigoschin. Seither gelten die beiden als Intimfeinde.

Putin, der weiter an seinem erfolglosen – und in den Pentagon-Leaks obendrein als potenzieller Putschist skizzierten – Oberbefehlshaber Gerassimow festhält, dürften derlei Befindlichkeiten freilich nicht tangieren. Sowohl Lapin als auch Teplinski wurden aus der Versenkung heraus zu Gerassimows Stellvertretern befördert.

Dass sich das Personalkarussell in Russlands Krieg dieser Tage so schnell dreht, ist für Reisner kein Zufall: "Offenbar gibt es in den russischen Führungszirkeln keine Einigkeit, wie man weiter in der Ukraine vorgehen soll. Die bis Jänner verfolgte Strategie, die eigenen Linien zu halten und die Ukrainer mithilfe der Artillerie immer wieder anlaufen zu lassen, dürfte im russischen Führungskorps mehr angenommen werden als der politische Druck von Putin, der wohl unbedingt Ergebnisse sehen will." (Florian Niederndorfer, 21.4.2023)