"Mario Kart" begeistert seit über 30 Jahren Gamerinnen und Gamer – in den 1990er-Jahren hat alles begonnen.

Foto: Nintendo

Die 1990er hatten ihre Schattenseiten – fragwürdige Frisuren etwa oder die von One-Hit-Wondern geprägten Musik-Charts. Aber es war auch eine große Aufbruchstimmung im Bereich Gaming, denn immer mehr Menschen griffen zum Joypad, gingen in die Spielhalle oder frönten dem boomenden Couch-Koop. Mit Spielen wie "Street Fighter II", "The Secret of Monkey Island" oder "Super Mario World" wurde eine Ära geprägt, die Jugendliche zu Gamern machte, obwohl es den Begriff noch gar nicht gab.

Spielhallen und Lösungstelefonate

Wenn ich heute die toxischen Threads auf Twitter beobachte, die sich über gleichgeschlechtliche Beziehungen in Videospielen echauffieren, oder mich durch überteuerte Season-Pass-Modelle und unfaire Free-2-Play-Konzepte selbst provoziert fühle, dann erinnere ich mich gern an die unschuldigen 1990er-Jahre zurück. Als Teenager erstmals in einer italienischen Spielhalle einen völlig Fremden in "Tekken" zu verhauen oder stundenlang mit einem Freund am Vierteltelefon zu hängen, um ihn nach dem Lösungsweg durch "Gobliiins" oder "Indiana Jones and the Fate of Atlantis" zu fragen, war eine prägende Zeit.

Es gab kein Internet und keine Smartphones, kein Discord oder Twitch. Wenn man sich für Videospiele interessierte, dann hatte man im Idealfall in der eigenen Schulklasse zumindest ein oder zwei Gleichgesinnte, die sich ebenfalls für bewegende Pixel interessierten. Dann konnte man sich stundenlang über die Moves in "Street Fighter 2" oder die kniffligsten Levels in "Lemmings" unterhalten, nur um vom Rest der Klasse als Außerirdische behandelt zu werden. Man war eine Minderheit, die sich über Sachen unterhielt, die viele noch gar nicht verstanden.

Manchmal gelang es sogar, einen Unbedarften ohne eigene Konsole von diesem neuen Hobby zu begeistern und dann mit ihm oder ihr gemeinsam auf der Couch fantastische Welten in diversen "Zelda"-Games zu entdecken oder sich in Sportspielen zu duellieren, zum Beispiel in "International Superstar Soccer" oder auch in "WWF: Royal Rumble". Einmal mit dem Games-Virus infiziert, kam man nur schwer davon los.

Dem Gegner musste man in den 1990er-Jahren noch in die Augen sehen – online wurde damals noch nicht gespielt.
Foto: TENGKU BAHAR

Teurer Spaß

Günstig war das Hobby nicht. Wenn man heute alte Hartlauer-Werbesendungen im Netz findet, staunt man, was ein PC oder ein Videospiel damals gekostet haben. Im Konsolenmarkt, kann man sagen, haben sich die Preise bis heute nicht verändert. Schon in den 1990er-Jahren zahlte man gerne einmal 60 bis 70 Euro für ein Spiel, genau wie heute. Auf Nintendo-Konsolen waren es gerne auch mal doppelt so viele Euro. Heute fast unvorstellbar, speziell wenn man die Inflation der letzten 30 Jahre mit einrechnet.

Informationen über Preise und natürlich neue Spiele bekam man exklusiv via Videospielmagazine. Diese lagen in gedruckter Form in Trafiken auf. "ASM", "Powerplay" oder "Mega Fun" – die Auswahl war groß, ganz im Gegensatz zu heute. Der Konsum dieser Magazine lohnte, denn ein Spiel aufgrund einer coolen Verpackung zu kaufen erwies sich oftmals als Griff ins Klo. "Clayfighters", "Superman: The New Adventures" oder "Shaq Fu" – Fehlkäufe taten weh, denn wenn man die Erziehungsberechtigten tatsächlich überzeugen konnte, diese teuren "Spielzeuge" zu kaufen, dann musste man dann auch damit spielen.

Alternativen zu Vollpreisspielen war unter anderem die Automaten in der Spielhalle. Im heimischen Wiener Prater etwa gab es so manche "Arcade", in der man in "Daytona" zum Rennfahrer wurde oder in "NBA Jam" zum Action-Basketballer. Der Schwierigkeitsgrad war fein justiert, damit Endgegner erst nach mehrmaligem Münzeinwurf besiegt werden konnten. Diese Härte, die heute nur noch selten in Spielen zu finden ist, war damals gang und gäbe. Die Teams hinter den Spielen waren klein, das heißt, die Spiele waren kurz. Um länger an diesen kiefeln zu müssen, waren sie einfach bockschwer, um nicht zu sagen unfair. So musste man Passagen auswendig lernen, etwa bei Shootern wie "Super Probotector" oder der berühmten "Castlevania"-Reihe. Üben, üben, üben, sonst ging wenig. Sterben gehörte zum Spielerlebnis und führte oftmals dazu, das Spiel ganz von vorne beginnen zu müssen. Aber Zeit war da, man hatte ja nicht viel zu tun, und Abwechslung gab es aufgrund des fehlenden Internets nur wenig.

Irgendwann erweiterten Videotheken – dort konnte man früher Serien und Filme ausborgen – ihr Repertoire um Videospiele. So konnte man sich Spiele für einen kurzen Zeitraum ausborgen und musste nicht gleich 60 Euro investieren, was ganz neue Möglichkeiten eröffnete, vor allem weil man später Spiele auch "kopieren" konnte und sich neben dem Leihmarkt auch noch ein Schwarzmarkt etablierte. Auf dem Schulhof wurde begonnen mit Disketten zu handeln. Manche wussten wohl gar nicht, dass Spiele normal nicht in Zehner- Diskettenboxen erschienen, sondern eigentlich in bunten Kartonschachteln. Auch hier gäbe es Anekdoten zu erzählen, aber das heben wir uns für eine andere Geschichte auf.

Während Spielhallen, auch genannt Arcades, in den 1990er-Jahren boomten, mussten viele in den letzten Jahren – auch aufgrund der Pandemie – zusperren.
Foto: KIM KYUNG-HOON

Information und Transformation

Ebenfalls auf dem Schulhof gab es auch damals schon den martialisch genannten "Konsolenkrieg". Vor allem zwischen Nintendo- und Sega-Fans wurde oftmals hitzig debattiert, welches Lager die bessere Konsole habe. Es ging darum, ob Mario oder Sonic besser war und ob man neidisch auf "Streets of Rage" oder doch "Zelda" blicken musste. Auch ob Blut in "Mortal Kombat" rot war oder wie auf Nintendo-Konsolen in "Schweiß" umgewandelt werden musste, war Thema – zumindest bis man dank Schummelmoduls die Farbe auch auf dem SNES leicht abändern konnte. Dennoch war die Diskussion unschuldig, vor allem im Vergleich zu heutigen Hass-Ansprachen im Netz.

Ebenjenes Netz sollte erst am Ende der 1990er-Jahre eine wachsende Rolle erhalten. Internetleitungen wurden stabiler und verbreiteter und damit zunehmend interessanter für den Spielemarkt. Erste Communitys bildeten sich dank ICQ. Justin.tv, der Vorgänger von Twitch war noch rund zehn Jahre entfernt. Mit "Starcraft" erschien 1998 ein Strategiespiel, das noch großen Einfluss auf eine wachsende Turnierlandschaft im Gaming haben sollte – und auch, dass Leute künftig beim Videospielen zuschauen würden. Im Jahr 2000 erschienen dann erst Spiele, mit denen viele von uns Internet-Gaming entdeckten. "Diablo 2" beispielsweise, bei dem man sich bei anderen Spielern einfach einklinken konnte oder später auf dem Online-Marktplatz Ebay aufgemotzte Avatare einfach um viel Geld verkaufen konnte.

"Starcraft" wurde erst in den 2000er-Jahren so richtig ein Hit, weil Menschen erstmals verstärkt online spielten und Online-Turniere im Netz zu schauen als spaßigen Zeitvertreib erkannten.
Foto: Blizzard

Heute ist anders – ich bin anders

In den 1990er-Jahren gab es keine Loot-Boxen oder die berüchtigte Ubi-Formel mit ihren unzähligen Türmen und Trillionen Quest-Markierungen. Es gab keine Season-Passes, kein Reddit und keine Youtube-Videos, die mir jeden Schritt in jedem Videospiel vorspielen oder erzählen konnten. Man bezeichnete sich nicht als Gamer oder Nerd – diese Begriffe gab es nicht. Man bekannte sich nicht zu einer Religion, sondern man wollte als Kind einfach Zeit überbrücken, weil damals einfach viel davon vorhanden war. Ein Luxus, den heutige Jugendliche mit Sicherheit aufgrund der nie enden wollenden Content-Flut nicht mehr nachvollziehen können.

Dass immer mehr Jugendliche zum Joypad griffen, wusste man damals nicht. Man war Teil einer Nische, irgendwo zwischen uncool und sehr uncool. Das machte aber nichts, denn einen Tag lang in "Bubble Bobble" versuchen, bis zum kapuzentragenden Endboss zu gelangen, oder erstmals von den durch Fenster springenden Zombie-Hunden in "Resident Evil" erschreckt zu werden war das alles wert. Auch das Zusammentragen von PCs inklusive bulliger Röhrenmonitore in die Wohnung eines Freundes, um gemeinsam "Warcraft" oder "Jagged Alliance: Deadly Games" zu spielen, war wie eine gemeinsame Reise in eine andere Welt.

Heute ist vieles, das in dieser Zeit laufen gelernt hat, selbstverständlich und immer verfügbar. Videospiele sind allgegenwärtig, sie sind Popkultur und in einer Vielfalt und Komplexität verfügbar, wie ich es als Zwölfjähriger nie hätte erträumen können. Ich bin dankbar, diese Zeit erlebt haben zu dürfen. Heute fühle ich mich manchmal erschlagen von der Fülle an Angebot, den vielen Distributionswegen und der ständigen Transformation der Branche. Da wäre es manchmal schön, wieder der kleine Junge zu sein, der vor seinem SNES ewig lange Viertelkreise nach vorne und zurück übt. Die Welt war damals in vielerlei Hinsicht einfacher. Das darf man in einer sentimentalen Minute auch einmal vermissen. (Alexander Amon, 26.4.2023)