Christophe Slagmuylder präsentiert bei den Wiener Festwochen ab 12. Mai sechs dichte Wochen internationaler Bühnenkunst.

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Teil des Eröffnungsprogramms auf dem Rathausplatz ist auch Multiinstrumentalist Beardyman, einer der weltbesten Beatboxer.

Beardyman

Das Performancekollektiv The Freestyle Orchestra besteht aus klassisch ausgebildeten Musikerinnen und Musikern mit Bewegungs- und Zirkuserfahrung. Sie treten beim Eröffnungsfest auf dem Rathausplatz auf.

Andrej Grilc

Bevor Christophe Slagmuylder im Sommer zu seiner neuen Aufgabe als Leiter des Palais des Beaux-Arts (Bozar) in Brüssel aufbricht, stehen noch sechs Wochen Wiener Festwochen an. Nach den schwierigen Jahren der Pandemie startet am 12. Mai ein geballtes Programm, das vieles von dem einlöst, was zuvor mancherorts vermisst wurde.

STANDARD: Die Wiener Festwochen wurden für ihre Schwerfälligkeit kritisiert, sie seien gar "feudalistisch", wie Frie Leysen sagte. Was konnten Sie verändern, welche Umstrukturierungen sind Ihnen am besten gelungen?

Slagmuylder: Ich konnte wirklich an der Institution der Festwochen arbeiten. Da uns die Covid-Jahre daran gehindert haben, programmatisch viel umzusetzen, fokussierten wir auf die Struktur. Vor allem wollte ich, dass wir alle, in allen Abteilungen, eine Vision teilen. Es ist mir, denke ich, auch gelungen, bestehende Machtverhältnisse aufzulockern und Abläufe sowie die Kommunikation horizontaler zu gestalten. Ich bevorzuge organisches Arbeiten. Die wichtigste Änderung war die Neubesetzung der Geschäftsführung und die Frage, wie wir im 21. Jahrhundert Kunst produzieren. Die Festwochen haben da viel Expertise, aber diese war oft sehr fixiert auf gewisse Formate. Wir mussten dahingehend flexibler werden und haben Rollen anders verteilt. An dieses Ansinnen bin ich, wie ich dann gemerkt habe, mit viel Naivität herangegangen. Vieles war sehr festgezurrt, jetzt ist die Pyramiden-Hierarchie etwas aufgelöster.

STANDARD: Weniger Hierarchie, mehr Transparenz – das sind schöne Begriffe, aber was haben Sie konkret geändert? Geben Sie ein Beispiel?

Slagmuylder: Zum Beispiel habe ich die Hierarchie in der Programmierung infrage gestellt, den Fokus von den Großproduktionen weggenommen, denn ich will nicht, dass das Kleine zum weniger Wichtigen wird. Auch habe ich gewisse Privilegien mancher Mitarbeitenden gestoppt. Impulse gehen schließlich nicht immer von Leitungspersonen aus.

STANDARD: Kritik sei auch "politisch motiviert" gewesen, haben Sie gesagt. Können Sie das präzisieren?

Slagmuylder: Als Wiener Festival stehen wir automatisch und fälschlicherweise immer im Ruf, ein Festival der SPÖ zu sein. Das bringt gewisse politisch motivierte Kritik mit sich. Was soll man dazu sagen? Ich kann nur sagen, dass ich zu jeder Zeit völlig unabhängig von der Politik agiert habe und agiere. Seltsam fand ich, dass die Kritik an mir immer unklar blieb. Es hieß, er sei eh kompetent und gut vernetzt und also ein guter Festivalmacher, aber eventuell nicht für Wien. Was heißt denn das? Habe ich nicht kapiert.

STANDARD: Sie wollten vor fünf Jahren die Stadt mittels langer Spaziergänge kennenlernen. Was haben Sie entdeckt?

Slagmuylder: Man sollte sehr gut wissen, wo man arbeitet. Nicht jedes Festival lässt sich überall machen, das wäre oberflächlich. Wien kann man nicht so schnell erfassen, mir ist das jedenfalls nicht leicht gefallen. Es hat mich mehr Zeit gekostet als erwartet. Am schwierigsten fand ich die Rolle der Presse, darauf war ich nicht vorbereitet. Natürlich ist uns nicht alles gelungen, aber diese passiv-aggressive Art der Berichterstattung hat mich doch überrascht.

STANDARD: War sie unfair, oder hat sie zu wenig genau hingesehen?

Slagmuylder: Eher Letzteres. Die von einer vorgefassten Meinung abgeleiteten Urteile fand ich schwierig, aber auch das Spiel mit Skandalisierung und Sensationalisierung. Darin lag auch eine spürbare Gewalt. Das kannte ich nicht.

STANDARD: Welche Rückmeldung haben Sie am alleröftesten gehört?

Slagmuylder: Am öftesten haben mir Kollegen und Kolleginnen aus Kulturinstitutionen der Stadt anerkennendes Feedback über das "freshe" Programm gegeben. Zu ihnen war die Beziehung sehr gut. Beim Kunstenfestival in Brüssel (das Slagmuylder zuvor leitete, Anm.) verlaufen die Gespräche mit den Spielstätten allerdings anders. Als Festwochen "arbeiten" wir mit den Institutionen nicht "zusammen", sondern wir mieten uns schlichtweg ein. Man handelt also nur einen Termin und einen Preis aus.

STANDARD: Von den zehn Millionen Euro Budget gehen angeblich "nur" fünf an die Künstlerinnen und Künstler. Die Wiener Festwochen "subventionieren" also andere Institutionen mit?

Slagmuylder: Die Zusammenarbeit mit den Festwochen ist für manche Institutionen sicher lukrativ.

STANDARD: Welche Tipps haben Sie für Ihren Nachfolger Milo Rau?

Slagmuylder: Ich würde ihm raten, dass er sich auf das konzentriert, was er wirklich machen möchte, und sich nicht von der Meinung anderer leiten lässt. Auch würde ich ihm eine gute Balance zwischen gesettelten und neuen Produktionen sowie zwischen den Generationen ans Herz legen. Wien hat ein ziemlich anspruchsvolles Publikum, es erwartet viel und nicht nur das Leichteste. Er muss also das Beste bringen, darf aber auch das Experiment nicht scheuen. Und: Er muss hier sein, anwesend sein und versuchen, die Stadt zu verstehen und auf sie zu reagieren.

STANDARD: Was macht Kunst für große Räume heute relevant?

Slagmuylder: Wir befinden uns in einer Zeit der Transformation, in der eine neue Generation diese ererbten großen Räume übernimmt. In Wien gibt es mit Florentina Holzinger ein fantastisches Beispiel dafür. Ob man ihre Arbeit mag oder nicht, Holzinger ist wie gemacht für die große Bühne. Das können oder wollen nicht alle Kunstschaffenden, aber vielleicht sollte man das stimulieren. Solche Orte können sehr kraftvoll sein. Vieles von der Relevanz liegt in der Beziehung zwischen Kunst und den Institutionen. Kunst will immer hinausgehen aus den Räumen, die Institution hält sie zurück. Man möchte Kunst also in gewisser Weise immer einrahmen. Wir sollten Kunst aber von existierenden Mustern lösen. Anders gesagt: Alte Männer inszenieren große Stücke auf großen Bühnen – diese Zeit liegt hinter uns. Ein schönes Beispiel für eine solche andere Sicht ist im heurigen Programm Jozef Wouters im Volkstheater.

STANDARD: Die Art des Produzierens hat sich nach der Pandemie nicht geändert. Wird das noch kommen, wohin entwickelt sich der Kultursektor?

Slagmuylder: Erschreckenderweise sind wir alle sehr rasch und vehement zurückgekehrt zur alten Arbeitsweise. Das ist sehr menschlich, denn der Druck – etwa durch Auslastungszahlen – ist andauernd spürbar. Wir müssen uns aber ändern. Es wird, fürchte ich, in Zukunft auch weniger Geld geben. Wir müssen lernen, die Relevanz von Theater für eine Gesellschaft abseits von Zahlen zu formulieren und zu messen. Für unsere Relevanz haben wir noch keinen anderen Weg gefunden, als zu produzieren, zu produzieren, zu produzieren. Der Covid-Impact war offenbar nicht schwerwiegend genug. Aber ich denke, er wird noch kommen. Dabei spielt die Beziehung zwischen Kunst und den Institutionen eine entscheidende Rolle. Wie beeinflussen sie sich gegenseitig, und welche Werkzeuge können wir entwickeln, um so flexibel wie möglich zu sein? Das Stadttheater-System ist ja eine Systemerfüllungsmaschine. Inhalte werden am laufenden Band zur Verfügung gestellt, um die Struktur zu rechtfertigen. Das Stadttheater ist zwar fantastisch, aber zugleich ist es auch Teil des Problems, denn Kunst wird darin zur Contentlieferantin, damit die Maschine läuft. Das ist aber nicht das Wesen von Kunst. Es sollte umgekehrt sein, die Maschine sollte für die Kunst nützbar sein.

STANDARD: Welche Produktionen liegen Ihnen besonders am Herzen?

Slagmuylder: Jene Arbeiten, in denen sich Musik und Theater intensiv begegnen: "Lulu", Toshiki Okada oder Stan Douglas mit dem Ensemble Modern – das sind meine Highlights, darauf bin ich stolz. Über das neue Stück "The Confessions" von Alexander Zeldin oder das endlich nach Wien kommende "Pieces of a Woman" von Kornél Mundruczó freue ich mich ebenso wie auf die Reihen "Comish", "Club Liaison" und "Elective Affinities". Wir wollen uns heuer vom Burgtheater zum Porgy & Bess, vom Franz-Josefs-Kai bis zur Volksoper erstrecken. (Margarete Affenzeller, 28.4.2023)