Kriege und bewaffnete Konflikte führen immer wieder zur Frage, wie Frieden gesichert werden kann.
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Knapp ein Jahr nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine übernahm die Wissenschafterin Rina Alluri an der Universität Innsbruck eine ehrwürdige Position. Seit Ende Jänner ist die promovierte Politologin die neue Inhaberin des Unesco-Lehrstuhls für Friedensforschung. Daneben ist sie Ko-Leiterin des Masterstudiengangs Friedens- und Konfliktforschung und Sprecherin des Forschungszentrums Innpeace. Ziel des Unesco-Lehrstuhls ist die Förderung universitärer Forschung, die auch durch grenzüberschreitende Kooperationen gestärkt werden sollen.

Zu diesem internationalen Fokus passen die bisherige Laufbahn und die Erfahrungen Rina Alluris nur zu gut. Nach dem Studium der Politikwissenschaften an der Universität Basel forschte sie an der Uni Zürich und betrieb im Rahmen ihres PhD- und ihres Postdoc-Studiums Feldforschung in Sri Lanka. Fragen in Zusammenhang mit Frieden und Konflikten seien immer schon eines ihrer Forschungsinteressen gewesen, erzählt die Wissenschafterin mit indischer und philippinischer Abstammung. Auch auf einer persönlichen Ebene wollte sie diese Bereiche verstehen.

Alluri wuchs in Nigeria auf und erlebte dort nicht nur verschiedene Regierungen, sondern auch unterschiedliche Sicherheitslagen. Konfliktthemen waren in vielen Situationen für sie präsent, sowohl auf einer persönlichen Ebene als auch in ihrer Ausbildung und im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit, die sie speziell auf Asien und Afrika fokussiert.

STANDARD: In der Geschichte der Menschheit gab es immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen. Liegt eher Krieg oder eher Frieden in der Natur des Menschen?

Alluri: Es gibt immer die Annahme, dass Konflikte die menschliche Natur beherrschen, weil sie sich so disruptiv und unnatürlich anfühlen. Geht ein Konflikt mit Gewalt einher, fürchten wir ihn und wissen nicht immer, wie wir damit umgehen sollen. Betrachtet man jedoch das tägliche Leben der Menschen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart, so ist der größte Teil unseres Alltags von Frieden geprägt. Auch wenn es banal klingen mag: Unsere täglichen Abläufe, Prozesse, Riten und die menschlichen Beziehungen, persönliche wie zwischenmenschliche, sind sehr stark mit Frieden verknüpft.

STANDARD: Das klingt, als wäre Frieden sehr stark in unseren Alltagsstrukturen verankert.

Alluri: Ich würde argumentieren, dass Frieden das Normale, das Alltägliche ist. Auch unsere Institutionen und unsere Nationen sind auf der Idee aufgebaut, dass wir Frieden wollen, dass wir ihn anstreben und dass wir auch bereit sind, dafür zu sorgen, dass er erhalten bleibt. Kriege oder Konflikte stören dieses tägliche Leben, unsere Praktiken und Riten, sodass wir als Menschen den Eindruck haben, sie überlagern alles, was wir tun. Das machen sie natürlich auch, und in diesem Sinne fühlen sie sich dann präsenter an als der Frieden.

STANDARD: Im historischen Vergleich zeigt sich, dass unsere Welt zunehmend friedlicher wird, dennoch herrscht das Gefühl, alles wende sich zum Schlechteren. Woran liegt das?

Alluri: Jede Generation hat das Gefühl, dass es immer mehr Konflikte gibt. Gerade jetzt, in Verbindung mit der weltweiten Pandemie, erleben wir eine sehr schwierige Zeit, das ist nicht nur eine Wahrnehmung. Wir befinden uns in Österreich in einem Moment, in dem sehr nahe ein Krieg stattfindet, den es vor ein paar Jahren noch nicht gab. Dieser Krieg hat Auswirkungen auf uns alle, ob es nun um Migration, Arbeit oder Gesundheit geht. Daneben gibt es eine globale Pandemie. Ich denke also, dass wir in der momentanen Situation die Sicherheit, das menschliche Leben, aber auch unsere Lebensgrundlage in einer Weise bedroht sehen, wie es noch vor fünf Jahren nicht der Fall war.

STANDARD: Welchen Einfluss haben persönliche Erfahrungen und der eigene Fokus auf ein solches Empfinden?

Alluri: Unsere Studierenden kommen aus der ganzen Welt, viele von ihnen aus Konflikt- und Hochrisikogebieten wie dem Irak, Kolumbien oder Uganda. Hier in Innsbruck fühlen sie sich relativ sicher. Sicherheit ist eine Wahrnehmung und kann immer nur vom Individuum definiert werden.

Auch Konflikte und Kriege verändern sich – und mit ihnen auch ihre Erforschung.
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STANDARD: Sie haben den Unesco-Lehrstuhl für Friedensforschung kurz vor dem ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine übernommen. Wie intensiv erleben Sie diese Zeit in Ihrer Rolle als Lehrstuhlinhaberin und auch als Forscherin?

Alluri: Die globale Situation hat immer Auswirkungen auf unser Studium. Es ist für uns sehr wichtig zu wissen, wie sich zum Beispiel der Konflikt in der Ukraine direkt und indirekt auf unsere Studierenden auswirkt. Viele von ihnen kommen auch aus Ländern, die Teil von Migrationsbewegungen und Flüchtlingsströmen sind, die in den letzten Jahren auch in Europa zu beobachten waren. All diese Dinge haben definitiv einen Einfluss darauf, wie wir die Forschung in diesem Bereich sehen und wie wir verstehen, wie sich Konflikte und Kriege ständig weiterentwickeln.

STANDARD: Sehen Sie bestimmte Entwicklungen oder Anzeichen, die Ihnen Hoffnung für die Ukraine geben?

Alluri: Die Hoffnung, die ich sehe, liegt in der Jugend. Ich denke, dass die Jugend in den meisten Konflikten am verwundbarsten ist, weil sie sehr oft Zielscheibe für Rekrutierung und Gewalt ist, aber sie stellt auch die Hoffnung auf eine mögliche Zukunft dar. Was wir aus der Sicht der Universitäten konkret sehen, ist, dass es Jugendliche gibt, die in der Diaspora sind, die sich in anderen Kontexten aufhalten, die trotz allem eine Ausbildung machen wollen, die immer noch Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben wollen.

STANDARD: Was bedeutet diese Zuversicht der jungen Generation?

Alluri: Am Ende des Tages, wenn der Krieg zu Ende ist, muss jemand das Land wieder aufbauen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um jene Generation, die in der Lage ist, einen solchen Aufbau zu bewerkstelligen. Das ist also definitiv die Hoffnung, die ich in der Jugend sehe, dass sie motiviert ist, sich in Gemeinschaftsinitiativen zu engagieren, sich an der Basis zu engagieren, sich weiterzubilden, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlernen, trotz der aktuellen Situation. Darin sehe ich auch das größte Potenzial, und so sieht man überall auf der Welt sehr kreative Initiativen, zum Beispiel in der Ukraine und von Jugendlichen, die versuchen, trotz des Krieges eine Zukunft aufzubauen.

"Es ist ein menschlicher Wunsch, Konflikte zu lösen und Wege zu finden, um zu Frieden zurückzukehren." – Rina Alluri

STANDARD: Wie schnell kann die Forschung auf Ereignisse wie den Krieg in der Ukraine reagieren und darauf eingehen?

Alluri: Für Forschende ist es sehr wichtig, auf dem neuesten Stand zu sein, gleichzeitig dauert es aber Jahre, bis Studien oder Arbeiten dann veröffentlicht werden. Viele von uns sind mit Netzwerken von Universitäten, Wissenschafterinnen und Wissenschaftern oder Aktivistinnen und Aktivisten verbunden, die derzeit im Kontext dieses Krieges arbeiten. Es ist für unsere Arbeit wichtig, dass wir ihre Wahrnehmungen kennen und wissen, wie sie die aktuelle Entwicklung vor Ort sehen.

STANDARD: Wie lassen sich in den chaotischen Zuständen und teils gefährlichen Wirren bewaffneter Konflikte verlässliche wissenschaftliche Schlüsse ziehen?

Alluri: Wir konzentrieren uns vor allem auf die qualitative Forschung. Wenn wir empirische Forschung betreiben, die den Kontakt zu Personen vor Ort erfordert, gibt es eine Menge zu beachten. Man muss wissen, ob man Zugang zu den Personen hat, ob es sicher ist, sie zu befragen, ob ihre oder die eigene Sicherheit gefährdet ist oder sein könnte. Zentral ist, ob es ethische Aspekte zu berücksichtigen gibt oder welche offiziellen Dokumente notwendig sind. Wir müssen alle unsere Hausaufgaben machen, bevor wir empirische Forschung betreiben können, speziell wenn es sich um einen heißen Konflikt handelt. Ich habe nach Kriegsende in Sri Lanka geforscht. Ursprünglich sollte ich dorthin gehen, als noch Krieg herrschte, der allerdings ziemlich abrupt militärisch endete.

STANDARD: Aber wie bekommt man den nötigen Zugang zu Konfliktregionen, um dort zu forschen?

Alluri: Es kommt immer auf den jeweiligen Fall an. Ich habe mit der Universität Colombo in Sri Lanka zusammengearbeitet, um gewisse Genehmigungen für die Durchführung von Forschungsarbeiten zu erhalten, und habe dann immer NGOs vor Ort engagiert, die ebenfalls Kontakte, Netzwerke und Informationen bereitstellten. Für die Forschung ist es enorm wichtig, am Zielort gute Netzwerke aufzubauen. Wir lehren unseren Studierenden diesbezüglich aber auch Aspekte der Reflexivität. Sie müssen sich bewusst sein, dass sie ihren Blickwinkel einengen, wenn sie sich nur auf ihre Netzwerke beschränken. Für die Forschung ist es aber unverzichtbar, so viele verschiedene Perspektiven wie möglich zu kennen.

Friedensbildende Maßnahmen müssen immer auf die jeweilige Konfliktsituation abgestimmt sein – eine Patentlösung existiert nicht.
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STANDARD: Gibt es nach aktuellem Stand der Forschung bestimmte Voraussetzungen für Frieden – oder etwas, das unbedingt gegeben sein muss?

Alluri: Nein, weil jeder Konflikt und jeder Friedensprozess anders ist. Die Frage ist, wie wir in solchen Kontexten ein gewisses Maß an menschlicher Sicherheit gewährleisten können. Ich habe die Zeit meines Doktorats- und auch Post-doc-Studiums überwiegend in Sri Lanka verbracht, wo 26 Jahre lang ein Bürgerkrieg herrschte. Es gab eine Reihe von vermittelten Friedensabkommen. Wenn wir diese analysieren, sehen wir, was die Voraussetzungen für den Dialog oder für die Mediation waren. Es ist also wichtig zu unterscheiden, dass es Voraussetzungen für bestimmte Schritte gibt, die man etwa in einem Bürgerkrieg unternehmen kann.

STANDARD: Wie sehen diese aus?

Alluri: Eine Voraussetzung besteht darin, eine Einzelperson oder eine Nation als neutralen Vermittler zu ernennen. Jemand, der in der Lage ist, den Konflikt zu verstehen, aber auch beide Parteien an einen Verhandlungstisch bringt. Ohne Zustimmung und Anwesenheit ist es natürlich unmöglich, den nächsten Schritt im Sinne eines Dialogs zu tun. Für die nächsten Schritte im Mediationsprozess sind bestimmte Maßnahmen zentral, die vereinbart und unterzeichnet werden: In einigen Fällen ist ein Waffenstillstand eine klare Voraussetzung. Ohne einen solchen kommt man im Hinblick auf ein formalisiertes Friedensabkommen nicht voran. Das gilt auch, wenn ein Waffenstillstand gebrochen wird und man keine vertrauensbildenden Maßnahmen ergreifen kann, die zu weiteren Vereinbarungen führen können.

STANDARD: Welche Bedeutung hat Vertrauen zwischen den beteiligten Konfliktparteien in solchen Friedensprozessen?

Die Forscherin Rina Alluri ist davon überzeugt, dass sich jeder Konflikt transformieren lässt.
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Alluri: Vertrauen ist sehr wichtig. Wenn wir über vermittelte Friedensabkommen sprechen, ist es wirklich entscheidend, dass beide Seiten vertrauensbildende Maßnahmen ergreifen, um zu zeigen, dass sie bereit und offen sind, sich auf eine Form des Friedens zuzubewegen. Aber auch, dass sie bereit sind, die vertrauensbildenden Maßnahmen der anderen Partei zu akzeptieren. Alle Konfliktparteien müssen spüren, dass die Maßnahmen ernst genommen werden. Es ist nicht unbedingt das Ziel, dass die Konfliktparteien einander lieben. Aber es muss eine Sphäre des Kompromisses geben. Es muss eine Sphäre des Verständnisses geben, damit wir an einen Punkt gelangen, an dem die Bereitschaft herrscht, gemeinsam auf den Frieden hinzuarbeiten und Optionen zu überlegen, wie dieser Frieden im jeweiligen Konflikt aussehen kann.

STANDARD: Lässt sich eigentlich jeder Konflikt lösen?

Alluri: Ich glaube, dass jeder Konflikt transformiert werden kann, und sehe auf jeden Fall, dass es dafür immer Potenzial gibt. Konflikte zu lösen ist an sich vielleicht ein unmögliches Unterfangen. In unserem Programm unterstützen wir auch die Idee der Konflikttransformation. Das Schlüsselelement ist, dass ein gewisses Maß an Konflikten als normal anerkannt wird, es ist menschlich. Aber ich denke, es ist auch ein menschlicher Wunsch, Konflikte zu lösen und Wege zu finden, um zu Frieden zurückzukehren. (Marlene Erhart, 7.5.2023)