Perlenohrringe, lila Hosenanzug, entschlossener Blick – Tang Yu wirkt auf den Betrachter wie eine moderne Geschäftsfrau, die souverän in Männerrunden auftritt. Eine, die in Asiens Konzernen Karriere gemacht hat. Doch die Frau, die seit August 2022 das Unternehmen Fujian Netdragon Websoft führt, ist gar kein Mensch, sondern ein Roboter.

Wenn sich die Manager des Unternehmens, einer Tochter des chinesischen Spielentwicklers Netdragon, zur Konferenz treffen, sehen sie einen KI-gestützten Humanoiden vor sich, als wären sie in einem Science -Fiction-Film. Ausgestattet mit immenser Rechenpower, soll die KI-Chefin im operativen Geschäft Aufgaben delegieren, Risiken bewerten und Entscheidungen treffen – also das tun, was ein Vorstandsvorsitzender aus Fleisch und Blut auch tut.

Tang Yu ist nun die CEO des chinesischen Unternehmens Netdragon.
Foto: NetDragon Websoft

Netdragon-Chef Liu Dejian sieht in KI die "Zukunft der Unternehmensführung". Man wolle die Algorithmen perspektivisch verbessern, um ein "offenes, interaktives und hochtransparentes Managementmodell" zu entwickeln. Tang Yu soll aber nicht mechanisch durchregieren, sondern auch Menschlichkeit simulieren.

Fürsorgliches Feedback

"Wenn sie anhand der Daten feststellt, dass einige Angestellten zuletzt länger gearbeitet haben oder ihre Performanz weniger gut war, wird sie mit ihnen auf fürsorgliche Weise reden", so Dejian. Auf der ganzen Welt berichteten Medien über die KI-Chefin. Seit der Ernennung von Tang Yu als CEO ist der Aktienkurs von Netdragon an der Hongkonger Börse deutlich gestiegen. Wie eigenständig Sie tatsächlich Entscheidungen ohne menschliches Einwirken trifft, darf hinterfragt werden und bleibt auch ein Fall für weitere Forschung.

Der Erfolg des Sprachmodells ChatGPT hat jedenfalls einen KI-Boom ausgelöst. Generative KI ist eine Revolution, die den Arbeitsmarkt so verändern könnte wie die Dampfmaschine und das Internet. Fast wöchentlich erscheinen Studien mit Listen von Berufen, die durch künstliche Intelligenz ersetzt werden könnten: Werbetexter, Übersetzer, Programmierer. Der CEO taucht auf den Listen allerdings noch nicht auf. Dabei ist es nur eine Frage der Zeit, bis KI-gestützte Entscheidungssysteme in die Chefetage vorrücken.

In der Plattformökonomie hat Software das mittlere Management bereits ersetzt: Algorithmen schicken Kuriere und Chauffeure zum Kunden und berechnen auf Grundlage riesiger Datenmengen die optimale Route.

Würden KI-Chefs denn auch so böse schauen? (Dieses Bild wurde mit der KI Midjourney erstellt.)
Foto: Midjourney

168 Stunden Arbeit, 0 Euro Gehalt

Management bedeutet vor allem Informationsverarbeitung, und darin werden Computer immer besser. Und sie haben in der Arbeitswelt einen entscheidenden Vorteil: Sie werden nicht müde, müssen nicht essen oder trinken und sind weniger fehleranfällig.

Auch KI-Chefin Tang Yu hat ein beachtliches Pensum. Ihre Wochenarbeitszeit: 168 Stunden. Ihr Gehalt: null Euro. Bedenkt man, dass das Durchschnittsgehalt eines Dax-Vorstands bei 6,1 Millionen Euro im Jahr liegt, besteht hier erhebliches Einsparpotenzial.

Mit Dezentralen Autonomen Organisationen (DAOs) gibt es bereits vollautomatisierte Kryptounternehmen, die ohne Chefs und sogar ohne Mitarbeiter und Firmensitz auskommen: Statt eines Vorstands entscheiden die Netzwerkteilnehmer im Kollektiv. Sämtliche Regeln sind in einem Blockchain-Protokoll gespeichert, einer Art Kassenbuch, das Transaktionen aufzeichnet und Entscheidungen autonom ausführt. Der Chef ist quasi der Code.

Diese nichthierarchischen Konstrukte sind etwas anders gelagert als die hierarchischen KI-Bosse, weil hier Informationen nicht an einer zentralen Stelle zusammenlaufen, sondern in dezentralen Knoten verteilt werden. Die Idee, durch eine Entpersonalisierung von Management Friktionen zu reduzieren und Planungsprozesse zu beschleunigen, ist beiden Organisationsformen gemein. Aber sind Computer auch die besseren Chefs?

Keine Launen, keine Intrigen

Es gibt einige Argumente, die dafürsprechen. Computer haben keine Launen, reagieren nicht impulsiv oder emotional und spinnen keine Intrigen. Der Roboter faltet die Belegschaft nicht zusammen, weil er ein stressiges Wochenende hatte, er nervt seine Mitarbeiter auch nicht mit Pseudonachfragen und Zusatzaufgaben. Eine KI, die nur nach Ansehung der Daten urteilt, könnte fairere und gerechtere Entscheidungen treffen. Zumindest in der Theorie. Denn in der Praxis hat sich gezeigt, dass Algorithmen Vorurteile ihrer Entwickler reproduzieren.

So sortierte Amazons Bewerbungsroboter bis 2017 systematisch Frauen aus, weil er darauf trainiert war, Menschen mit geringer Berufserfahrung (statistisch gesehen Frauen) herabzustufen. Das System brachte sich selbst bei, dass Männer bei der Bewerbung bevorzugt werden, indem es beispielsweise Lebensläufe, die das Wort "women’s" enthielten, schlechter bewertete. Amazon-Angestellte wurden in der Vergangenheit auch schon von einem Bot entlassen. Angesichts der Gefühlskälte von Maschinen wünschen sich manche wohl eine Führungskraft, die vielleicht Launen, dafür aber auch Verständnis hat. (Adrian Lobe, 10.5.2023)