Empathische Chefinnen und Chefs sind nahbarer – müssen aber nicht immer alle glücklich machen.

Foto: Getty Images

Da ist die eine Mitarbeiterin, die Meetingmarathons kaum aushält, ihr Kollege wiederum möchte am liebsten für jede Aufgabe einen eigenen Jour fixe aufsetzen. Ihre Teamkollegin braucht das Verständnis dafür, dass sie beim Arbeiten im Großraumbüro Kopfhörer verwendet. Das Teammitglied direkt neben ihr muss jede Woche zwei Arzttermine wahrnehmen.

Und die Führungskraft? Sie muss diese Bedürfnisse kennen, sich hineindenken, sie irgendwie berücksichtigen. So will es das Konzept der empathischen Führung. Kaum eine Managerin, kaum ein Manager hat von dem Modewort noch nichts gelesen oder gehört. Die Geschehnisse der letzten drei Jahre gelten als der große Aufhänger für die laut zahlreicher Ratgeber, Coaches und Personalberatungen unverzichtbare Eigenschaft im Chefsessel: die Empathie.

Eine Krise nach der anderen, eine sich rapide verändernde Arbeitswelt, die voranschreitende Digitalisierung mit remote und Homeoffice, die schon fast jeder Betrieb anbieten muss: Da sollen Führungsstile, welche die Zahlen, aber nicht die Menschen wachsen sehen wollen, nicht mehr zeitgemäß sein.

Heute sollen Vorgesetzte mitfühlen, verständnisvoll sein, alle Mitarbeiter in- und auswendig kennen. Aber war das nicht schon immer so? Wollten Führungspersonen nicht immer schon nur das Beste für ihre Angestellten? Genau hier steckt der größte Irrglaube, wenn es um empathische Führung geht: Sie bedeutet nicht, die Mutter- oder Vaterrolle für die Mitarbeitenden einzunehmen – und auch nicht, jeden Wunsch der Teammitglieder intus zu haben, geschweige denn, sie immer in jeder Situation zu verstehen.

Emotionen völlig aus der Geschäftswelt auszuschließen wäre aber für erfolgreiche Unternehmen eigentlich undenkbar, erklärt das Center for Creative Leadership in einem Blogartikel. Sie beeinflussen, wie wir bei Konflikten handeln, oder ob wir Herausforderungen annehmen. Ohne Emotionen, keine Anstrengung. Daher hängen emotionale Intelligenz und effektive Führung von Teams so eng miteinander zusammen, predigt die Non-Profit-Organisation für Führungskräftetrainings aus den USA.

Weg vom Statusdenken

Wer sich intensiv in das Modell der empathischen Führung reinliest, stößt mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Texte oder Postings von Lunia Hara. Sie ist Digital-Projektmanagerin und Führungskraft im Technologieunternehmen Diconium und Influencerin sowie Ratgeberin zum Thema empathische Führung.

Angestellte verlassen Manager und nicht den Arbeitsplatz, sagt Führungskraft Lunia Hara.

Vor allem auf der Online-Plattform für die Arbeitswelt, Linkedin, postet Hara regelmäßig zum Kulturwandel in den Führungsetagen. Konkret bedeutet das für sie: weg von dem klassischen Führungsstil, der mit Statusdenken, Kontrolle und Machtstreben einhergeht, hin zu einer Führungsrolle, die vor allem an der Weiterentwicklung von Menschen interessiert ist, ihr Wissen weitergeben will und auch sich selbst gut kennt.

Dabei plädiert Hara, dass empathisch zu führen alles andere als eine Führung mit Wohlfühleffekt ist. Viel eher ist sie herausfordernd und aktiv, braucht ständige Selbstreflexion. Ein Blick in die Kommentarspalte eines hundertfach geteilten Beitrages von Hara zu den Voraussetzungen für empathisches Führen zeigt: Einfach ist das mit Sicherheit nicht. Und auch keine Fähigkeit, die jeder Chefin und jedem Chef in die Wiege gelegt wurde und die er oder sie mit einem schnellen Trick hervorrufen kann.

Das sagen die Managerinnen und Manager

"Leider jedoch ein sehr kompliziertes Thema. Warum? Diejenigen, die diese Führung praktizieren (sollen), beurteilen selbst, wie gut sie dies tun! Da müsste es bessere Beurteilungsmechanismen geben. Die Realität in einigen Unternehmen zeigt die Defizite",

schreibt ein Karrierecoach in die Kommentare.

"Die Aufgabe von Führungskräften ist es ja nicht, den Individuen in der Organisation zum Glück zu verhelfen, sondern eine gemeinsame Problemlösung zu ermöglichen",

kommentiert hingegen ein Personalmanager.

Für eine Sales-Managerin wiederum braucht es scharfe Menschenkenntnis:

"Empathische Führung bedeutet auch den Shift von der Führungskraft zum Coach, Führen mit Empathie braucht mehr Zeit, mehr Investment und die Grundkompetenz, dass man Menschen und ihre Individualität mag. Mehr zuhören statt selbst reden. Sonst wird das zu einer Scheinveranstaltung."

Hineinversetzen können

Einig sind sich Fachleute jedenfalls, dass sich Empathie erlernen lässt, wenn sie in einer Person kaum vorhanden ist. Genauer besteht sie aus der Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen und sich auch emotional in dessen Gefühlslage hineinversetzen zu können.

Ein einfaches Beispiel wäre: Wenn eine Führungskraft sehr laut spricht, würde sie also merken, wenn sich das Gegenüber dadurch unwohl fühlt. Andererseits zählt auch das Handeln dazu:_aktiv zuhören, Mitgefühl zeigen, auf Mitarbeitende zugehen und sie ansprechen, wenn man denkt, es geht ihnen gerade nicht gut.

Eine Person, die verschiedene Chefinnen und Chefs regelmäßig zu einem empathischen Stil coacht, ist die Arbeitspsychologin Christine Hoffman in Wien. "Empathie ist eine wichtige Führungskompetenz unter vielen", sagt Hoffmann. "Aber Führungskräfte sind keine Sozialarbeiter."

Christine Hoffmann coacht Führungskräfte hin zu mehr psychologischem Wissen im Chefsessel.
Foto: Andrea Klem

Es müsse klar sein, betont die Psychologin, dass es in vielen Situationen auch noch andere Kenntnisse braucht und eine zu empathische Art auch nicht zielführend ist. "Führung ist immer ein Balanceakt zwischen Nähe und Distanz", erklärt sie, "Nähe einerseits, um Verbindung herzustellen und das Team zusammenzuhalten, aber auch Distanz, um fokussierte Entscheidungen zu treffen und Komplexität zu reduzieren."

Denn die Leiterin oder der Leiter führt nicht nur die Menschen im eigenen Team, sondern auch sich selbst und das Unternehmen. "Das bedeutet eben auch manchmal, unliebsame Entscheidungen zu treffen", erklärt die Psychologin.

Schnell an der Grenze

Es soll also lange nicht mehr ausreichen, in seinem Fach erfahren zu sein und Feedback geben zu können. Die Anforderungen an Personen in Chefetagen wachsen immer mehr und verlangen immer mehr psychologische und zwischenmenschliche Kompetenz. Und wer versucht, in allen Bereichen immer alles richtig zu machen, gerät schnell an seine Grenzen – bis hin zu einem Gefühl der völligen Überforderung. Helfen soll dabei, immer wieder das Dreieck aus den eigenen Bedürfnissen, den Gefühlen der anderen und den Bedürfnissen des Unternehmens zu reflektieren.

Permanent die Gefühle der anderen über die eigenen Bedürfnisse zu stellen kann dabei genauso zur Erschöpfung führen, wie wenn ein Chef ständig die Rolle eines Therapeuten oder eines Lebenscoachs einnimmt. Es ist zwar sinnvoll, auf Mitarbeitende, denen es nicht gutgeht, zuzugehen und sie anzusprechen, aber es muss daraus kein tiefgründiges Coachinggespräch entstehen. Es kann auch das Angebot reichen, dass sich die Person den restlichen Tag freinimmt – mit dem Wissen, dass es so ein Angebot nicht immer geben kann.

Genauso muss auch nicht jedes Feedback positiv sein oder nur auf die Stärken einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters eingegangen werden. Auch schwächere Leistungen kann man benennen. "Ein Feedbackgespräch ist immer eine Einladung für Verhaltensänderung", sagt Psychologin Hoffmann dazu, "und natürlich folgen Menschen eher Einladungen, die schön gestaltet sind."

Mitarbeitende lange binden

Gerade auch in Hinblick auf das Ringen um Talente auf dem Markt werden sich Unternehmen in Zukunft lieber auf Führungskräfte mit hoher emotionaler Intelligenz verlassen wollen. Der Fachkräftemangel verlangt auch, dass Vorgesetzte bereits beim Einstellen die neuen Teammitglieder oder Bewerbenden auf lange Sicht für sich gewinnen können.

Herbert Fritsch-Richter, Personalberater, beobachtet einen Vorteil für empathische Führungskräfte.
Foto: EO Executives

Das beobachtet auch der Director des Personalberatungsunternehmens EO Austria, Herbert Fritsch-Richter. "Chefinnen und Chefs, die Bewerbende gleich in den ersten Interviews an die Firma binden können, haben einen deutlichen Vorteil."

Im Bewerbungsgespräch würden die meisten Menschen es sofort merken, wenn eine potenzielle Vorgesetzte empathisch ist, also wer auf sie eingehen kann oder wer die Themen, die heute relevant sind, versteht. Aber auch, wenn die Arbeitsatmosphäre eher von Angst geprägt ist und hauptsächlich negative Emotionen vorherrschen.

Gleichzeitig – da geht es wieder um den Balanceakt – muss und kann eine Vorgesetzte nicht immer alle zufriedenstellen und glücklich machen. Und das ist auch völlig nachvollziehbar, meint Arbeitspsychologin Hoffmann. Denn wenn sich Organisationen neu aufstellen und ein allgemeiner Kulturwandel im Gange ist, kann von niemandem verlangt werden, immer alles richtig zu machen. (Melanie Raidl, 8.5.2023)