Istanbul – Vor dem Zelt mit den Wimpeln der regierenden AKP auf dem Hauptplatz im Istanbuler Stadtteil Üsküdar hat sich eine lange Schlange gebildet. Alle Parteien machen hier Wahlkampf, und bislang war der Stand der AKP nicht gerade gut besucht. Doch bei näherem Hinsehen wird schnell klar, dass es hier nicht um Wahlbroschüren geht, für die die Leute anstehen, sondern um Sandwiches. Berge von Sandwiches werden verteilt und finden reißenden Absatz.

In der Schlange steht auch eine etwas abgehärmte Frau, die sich, als sie an der Reihe ist, gleich drei Pakete reichen lässt. Ist sie dankbar, dass die Partei des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Essen verteilt?

Lebensmittel auf dem Markt sind für viele Menschen in der Türkei kaum noch bezahlbar.
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"Wieso dankbar", fragt die Dame leicht genervt zurück. "Ich stehe doch hier wegen dieser lächerlichen Sandwiches an, weil Brot, Zwiebeln und Milch kaum noch bezahlbar sind, gerade weil wegen Erdoğan die Preise jeden Tag weiter steigen." Im Gespräch stellt sich heraus, dass sie und ihre Großfamilie in einem ärmeren Vorort Istanbuls leben. "Zusammen mit meinem Mann, meiner Mutter und meinen verheirateten Söhnen. Alle in einem winzigen Haus."

Kemal Kılıçdaroğlu, der gemeinsame Kandidat der türkischen Opposition, hat gute Chancen, neuer türkischer Präsident zu werden. Doch welche Pläne hat der Herausforderer von Erdoğan?
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Teure Zwiebeln

Sie geht bei besser betuchten Familien in Üsküdar putzen, einer ihrer Söhne hat einen Aushilfsjob in einer Fabrik. Das war's, der Rest der Familie ist arbeitslos oder kann krankheitsbedingt nicht mehr arbeiten. "Ich sehe jeden Tag, wie die Lebensmittelpreise im Supermarkt immer weiter steigen, selbst Zwiebeln sind kaum noch zu bezahlen."

In einem seiner letzten Videos, die der Präsidentschaftskandidat der Opposition, Kemal Kılıçdaroğlu, regelmäßig über Youtube verbreitet, hielt der wichtigste Konkurrent Erdoğans lediglich eine Zwiebel in die Kamera. Zwiebeln sind eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel der Türkei. Neben dem Weizenbrot und weißen Bohnen gehören sie in jede Küche und werden gerade in ärmeren Familien vielfach verarbeitet.

Ein Kilo Zwiebeln, so Kılıçdaroğlu in seinem Video, kosteten jetzt 30 Lira, ein unerhörter Preis. Während Präsident Erdoğan auf seinen Wahlkampfveranstaltungen vom Stolz auf neue Waffensysteme und von türkischen Großmachtträume redet, spricht Kılıçdaroğlu von Zwiebeln und anderen Grundnahrungsmitteln und weiß, dass er damit den Nerv vieler Wählerinnen und Wähler trifft, gerade auch von solchen, die jahrelang Erdoğan gewählt haben.

Dass Erdoğans Politik einmal wirtschaftlichen Aufschwung forcierte, weiß man nur noch aus Erzählungen.
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Folgen von Erdoğans Politik

Erdoğan stand einmal für wirtschaftlichen Aufschwung, doch das ist lange her. Seit er in den letzten zehn Jahren ein immer autoritäreres System etabliert hat, den Rechtsstaat geschleift und auch die anderen Institutionen des Landes ausgehöhlt hat, haben sich die ausländischen Investoren abgewandt und damit die Refinanzierung der chronisch unausgeglichenen Zahlungsbilanz extrem erschwert.

Der Schuldenstand – und damit die Inflation – stieg, und die türkische Zentralbank versuchte zunächst ganz klassisch, durch hohe Zinsen die Inflation zu drücken und erneut ausländische Investitionen anzulocken. Doch Erdoğan hat eine andere Wirtschaftstheorie. Er will die Inflation mit niedrigen Zinsen bekämpfen. Innerhalb von zwei Jahren wurden drei Zentralbankchefs, die sich Erdoğans Anordnungen widersetzten gefeuert, bis ein willfähriger Parteimann dann wie gewünscht die Zinsen herabsetzte. Was sich so technisch anhört, hatte dramatische Auswirkungen.

Aktuell ist es primär der Preis von Zwiebeln, der Türkinnen und Türken zum Weinen bringt.
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Massive Geldentwertung

Die Inflation stieg auf Weltrekordniveau und mit ihr die Preise. Im Gegenzug verlor die türkische Lira gegenüber dem Dollar und Euro dramatisch an Wert. Der größte türkische Geldschein, 200 Lira, war vor Jahren noch mehr als 100 Euro wert, heute sind es nicht einmal mehr zehn Euro.

Erdoğan behauptet, er würde durch niedrige Zinsen den Export ankurbeln und durch billiges Geld Investitionen im Land ermöglichen. Doch das hilft nur einer kleinen Gruppe mit ihm befreundeter Unternehmer, vor allem aus der Baubranche. Die türkische Wirtschaft muss für ihre Firmen viele Vorprodukte aus dem Ausland importieren, die sich mittlerweile so stark verteuert haben, dass vor allem mittelständische Betriebe aufgeben müssen.

Um die Folgen seiner Wirtschaftspolitik abzumildern, hat Erdoğan mit neu gedrucktem Geld – was wiederum die Inflation anheizt – den Mindestlohn erhöht, Rentenbezüge verdoppelt und darüber hinaus auch noch das Renteneintrittsalter abgeschafft. Jeder kann jetzt in Rente gehen, wenn er oder sie eine bestimmte Anzahl an Jahren gearbeitet hat. Am Montag verkündete er, dass die Beamtengehälter um 45 Prozent steigen sollen. Doch das nutzt den Leuten wenig, wenn die Preise für Lebensmittel und Mieten so stark steigen wie in den letzten zwei Jahren.

Mehr als 100 Euro war der 200-Lira-Schein vor ein paar Jahren noch wert. Heute sind es weniger als zehn Euro.
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Die einen sagen 45, die anderen über 100

Während das staatliche Statistikinstitut behauptet, die Inflation sei auf 45 Prozent gesunken, errechnen unabhängige Wirtschaftsexperten bei Lebensmitteln nach wie vor eine Inflationsrate von über 100 Prozent. Gerade Leute wie die Dame in der Schlange vor dem Sandwichstand der AKP in Üsküdar sind verzweifelt.

Dazu kommen derzeit täglich neue Geschichten über ein weitverbreitetes Korruptionssystem an der Spitze der Regierung und Regierungspartei, die die Wähler zusätzlich irritieren. Der Renner im Netz sind derzeit Videos auf Youtube die ein Ali Yeşildağ, einstmals ein Mitarbeiter aus Erdoğans persönlichem Umkreis, aus dem Ausland postet.

Ali Yeşildağ

Bestechungsgelder für Flughafen

Yeşildağ berichtet in seinen Videos, wie bei der Vergabe der Lizenz für den Flughafen Antalya an ein Betreiberkonsortium, zu dem auch die deutsche Fraport gehört, Milliarden an Bestechung geflossen seien, wie das Landwirtschaftsministerium EU Fördergelder abgezweigt habe und wie bei riesigen Hotelprojekten am Ufer des Bosporus geschmiert und erpresst worden sei. Yeşildağ behauptet sogar, dass Erdoğan als Mitwisser und Nutznießer immer dabei gewesen sei.

Alles an Yeşildağs Erzählungen ist unbewiesen, und der Zeitpunkt, zu dem sie nun, wenige Tagen vor den Wahlen, auftauchen, legt natürlich nahe, dass sie gezielt eingesetzt werden. Doch Yeşildağ berichtet aus eigenem Erleben und hört sich glaubwürdig an. In den weitgehend von Erdoğan kontrollierten Medien taucht davon nichts auf. Dennoch wissen fast alle Bescheid. Auch die Dame in der Sandwich-Schlange hat davon gehört. Auf die Frage, ob sie Erdoğan denn nun noch einmal wählen würde, hat sie eine kategorische Antwort: "Auf keinen Fall!" (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 12.5.2023)