Schimpansen sehen den blauen Teil der Welt wahrscheinlich weniger nuancenreich. Schuld daran ist das Fehlen einer speziellen Nervenzellverschaltung in der Netzhaut, die vor allem mit der Verarbeitung von Blautönen zu tun hat.

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So ähnlich unsere nächsten lebenden Verwandten uns auch sein mögen, das eine Prozent, durch das wir uns genetisch von Schimpansen unterscheiden, hat es in sich: Eine Forschungsgruppe fand nun auch entscheidende Differenzen in den Sehsystemen der beiden Hominiden, deren letzter gemeinsame Vorfahre vor rund 25 Millionen Jahren lebte: Das Team mit Beteiligung aus Wien spürte evolutionäre Anpassungen in der menschlichen Netzhaut auf, die es uns erlauben, verstärkte Farbsehsignale an das Gehirn zu senden.

Verschiedene Entwicklungswege

In ihrer nun im Fachjournal "PNAS" erschienenen Studie haben Yeon Jin Kim, Dennis Dacey, Orin Packer von der University of Washington School of Medicine in Seattle (USA), Paul Martin und Ulrike Grünert von der University of Sydney (Australien) und Andreas Pollreisz von der Klinik für Augenheilkunde und Optometrie an der Medizinischen Universität Wien die Netzhaut-Nervenzellen und deren Verschaltungen genau unter die Lupe genommen. Die Frage war, inwieweit sich die Strukturen seit der Abspaltung der Arten verschieden entwickelt haben und wie sich etwaige Unterschiede auf das Farbsehen auswirken könnten.

Mit einer neuen dreidimensionalen Elektronenmikroskopie-Technik untersuchten die Forscher die retinale Konnektomik, also die feinen Nervenverschaltungen der Netzhaut. Sie konzentrierten sich auf jene Region der Retina, die bei Primaten für das scharfe Sehen verantwortlich ist – die Sehgrube oder Fovea centralis. Dort finden sich Sehzellen vom Typ der Zapfen. Sie sind für das Farbsehen verantwortlich, während die Stäbchen-Sehzellen für das Hell-Dunkel-Sehen zuständig sind.

Bunte Zapfentypen

Unter den Zapfen gibt es wiederum verschiedene Typen, die jeweils auf verschiedene Wellenlängen des Lichts reagieren. So sind die S-Zapfen vor allem für das Sehen im blau-violetten Bereich zuständig. M-Zapfen fungieren als Rezeptor für Grün und mehr oder weniger benachbarte Wellenlängen im Spektrum von Bläulich bis Orange. Die L-Zapfen sind vor allem für den roten Bereich zuständig. Die Farbwahrnehmung wird über Nervenzellschaltkreise ermöglicht, die die komplexen Informationen der unterschiedlichen Zapfentypen bündeln.

Auf diese Schaltkreise konzentrierten sich die Wissenschafter in ihrer Untersuchung – und fanden auch tatsächlich Unterschiede zwischen den Spezies: Demnach fehlt bei Affen eine Art der Nervenzellverschaltung, die vor allem mit der Verarbeitung von Blautönen in Zusammenhang steht, schreiben die Forscher in ihrer Arbeit. Das dürfte Menschen das Sehen einer größeren Blauton-Bandbreite erlauben.

Einzigartige Netzhaut

Das zeige, dass die menschliche Netzhaut in ihrer Feinstruktur einzigartig aufgebaut ist und dementsprechend auch ein ausgeprägteres Wahrnehmungsvermögen erlaubt. Denkbar sei, dass die abweichende Art der Verschaltung beim Menschen eine Anpassung an das Leben zu ebener Erde anstatt auf Bäumen ist, meinen die Wissenschafter.

Die in der Studie angewendete neue Methode, um neuronale Schaltkreise dreidimensional darzustellen, könne künftig dabei helfen, viele weitere Fragen zu beantworten. So etwa wie die Evolution das Nervensystem des Menschen hinsichtlich unserer einzigartigen Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen verändert hat, erklärte Pollreisz. (red, APA, 12.5.2023)