Der Wind bläst die Prager Straße entlang, fast so schnell, wie die Autos auf der vierspurigen Straße am Haus Nummer 173 vorbeibrettern. Das zweistöckige Gebäude sieht aus wie viele in Wien. Wer hierherkommt, weiß genau, wohin er will. Laufkundschaft gibt es nicht, denn von der Straße aus ist nicht zu erkennen, was sich im ersten Stock hinter der Tür von Top 5 verbirgt.

Sticken ist derzeit wieder sehr beliebt. Kurse für Anfängerinnen gibt es bei We love handmade.
Foto: We love handmade

All jene, die eingeweiht sind, gehen zielstrebig die Stiegen hinauf und finden sich in einer Wohnung wieder, deren fünf Zimmer ringsum mit Regalen voller Stoffe und anderem Nähzubehör ausgestattet sind. Der Onlineshop Lieblingsstücke.at hat hier sein Lager, an einigen Tagen im Monat ist auch vor Ort für all jene geöffnet, die Bescheid wissen und einen Stoff angreifen wollen, bevor sie ihn kaufen.

Eine der Eingeweihten ist Marianne. Sie war schon mehrmals hier auf der Suche nach speziellen Stoffen. Ihr aktuelles Projekt ist ein neues Halsband für ihren Hund. Abends, nach der Arbeit, setzt sie sich oft bis spät nachts an ihre Nähmaschine. Schon seit vielen Jahren ist Nähen ihr Hobby – auch Röcke hat sie sich schon selbst genäht und eine Geldbörse. "Es macht mir Spaß, dass ich etwas selbst erschaffen kann, und oft gibt es die Dinge einfach so nicht zu kaufen, wie ich sie gerne hätte", sagt sie.

Strickende Promis

Marianne ist nicht die Einzige, die das Selbermachen für sich entdeckt hat. Michelle Obama tut es, Pierce Brosnan und Serena Williams ebenfalls – sie stricken, malen oder töpfern. Obama beschreibt in ihrem aktuellen Buch Das Licht in uns, wie das Stricken ihr während der Covid-Lockdowns half, zur Ruhe zu finden und gegen ihr Gefühl der Hoffnungslosigkeit während der multiplen Krisen auf der Welt anzukämpfen.

Wie stricken ihr hilft, erzählt Michelle Obama bei der Präsentation ihres aktuellen Buchs der Moderatorin Ellen DeGeneres.
Foto: AP

Bis vor wenigen Jahren wirkten Hobbys wie diese ein wenig aus der Zeit gefallen. Doch spätestens seit Beginn der Pandemie erleben Basteln, Nähen, Sticken und Malen eine Renaissance. Das stereotype Bild der strickenden Hausfrau ist längst überholt. In Wien gibt es unzählige Workshops und Kurse, in denen man Sticken, Aquarellmalerei, Nähen, Handlettering, Blumenbinden oder Makramee lernen kann.

Zwei, die solche Kurse anbieten, sind Petra Gschwendtner und Anna Heuberger. Vor 13 Jahren hat Heuberger ihr Kreativbusiness We love handmade gegründet und später mit Gschwendtner gemeinsam geführt, mittlerweile betreibt letztere mit Ocker Creative ihr eigenes Geschäft. "Die Menschen wollen wieder etwas mit ihren Händen machen", sagt Gschwendtner. Am Ende hätten sie dann ein fertiges Stück, auf das sie stolz sein können.

Im Studio von Ocker Creative in Wien-Landstraße gibt es Kurse in Aquarellmalerei.
Foto: Petra Gschwendtner | www.ocker.at

Die Workshops in ihrem Studio in Wien-Landstraße sind beliebt und werden auch für alle möglichen Anlässe gebucht, etwa von Unternehmen, für Geburtstagsfeiern oder bei Junggesellinnenabschieden. Primär würden sich Frauen für die Angebote interessieren, sagt Gschwendtner, aber auch Pärchen, die in der Pension Kalligrafie lernen wollten, Jugendliche oder Mutter-Tochter-Paare waren schon dabei.

Inspiration auf Instagram

Was angesagt ist, ändert sich regelmäßig. Denn auch Kreativhobbys unterliegen Trends. Laut Gschwendtner sind derzeit Interior-Projekte wie das Verschönern von Möbelstücken beliebt oder das Upcycling von kleinen Deko-Gegenständen für daheim. Für andere Dinge interessiere sich hingegen derzeit kaum jemand, etwa für Seidenmalerei, sagt Anna Heuberger von We love handmade. Die Trends würden meist aus den USA kommen und sich über die sozialen Medien verbreiten. Dort gibt es Abermillionen von Accounts, die sich dem Selbermachen widmen und Inspiration geben. So werden etwa unter dem Tiktok-Schlagwort #Crafttok Teppiche geknüpft, Rosen aus Küchenrolle gebastelt, Patchwork decken genäht oder Kerzen bemalt.

Anleitungen für jede Art von Handarbeit gibt es in den sozialen Medien, etwa auf Tiktok.

Anna Heuberger arbeitet aktuell vor allem mit Keramik, weil es ihr beim Runterkommen hilft. "Ich brauche den Ausgleich. Und das Praktische ist: Wenn meine Hände im Ton stecken, kann ich mein Handy gar nicht angreifen, weil es sonst dreckig werden würde", erzählt sie schmunzelnd. Die Arbeit an der Töpferscheibe habe für sie etwas Meditatives.

Diesen Effekt bestätigt auch der Psychotherapeut Peter Stippl. Wer sich auf eine Handarbeit konzentriere, müsse das Drumherum abschalten, und das Gedankenkreisen bleibe weg. Viele Menschen hätten derzeit mit Ängsten zu kämpfen, seien es Jobverlust, Kreditrückzahlungen oder die Teuerung. "Kreative Hobbys können diese Sorgen abschalten", sagt Stippl. Hinzu komme die Freude und Befriedigung, etwas geschafft zu haben. Dann dürfe man sich auch mal selbst loben – und das sei etwas, was in unseren stressigen Zeiten selten geworden ist.

Bei Textil Müller in Kritzendorf gibt es fast alles, dafür muss man sich etwas durch die Regale wühlen.
Foto: Heribert Corn

Dennoch ist es für viele Menschen eine große Hürde, tatsächlich mit dem Selbermachen zu starten. Fehlendes Material oder die Angst, man könne es nicht, seien meist die Gründe, weiß Heuberger. Viele würden sich auch noch an ihre Zeit in der Schule und an Fächer wie "Kreatives Gestalten" erinnern, mit denen sie meist keine guten Erfahrungen gemacht haben. Dennoch rät Heuberger allen, es einfach mal auszuprobieren und vom reinen Sammeln und Speichern von Ideen auf Instagram, Tiktok oder Pinterest-Boards tatsächlich ins Tun zu kommen.

Stoffe zum Schleuderpreis

Waren Handarbeiten wie Nähen und Stricken früher vor allem ein Mittel, um Geld zu sparen, sind Hobbys wie diese heute teilweise sehr kostspielig. Eine Hose zu nähen oder eine Haube zu stricken ist nicht unbedingt billiger, als sie neu zu kaufen. Denn Wolle und Stoffe sind oft teuer, Shoppen bei Kleidungs-Discountern hingegen nicht. Ein Ort, an dem man hier dagegenhalten will, befindet sich in Kritzendorf. Direkt am Bahnhof, zwischen Donauufer und den Zuggleisen Richtung Wien, liegt das Unternehmen Textil Müller – vielen auch als "Fetzenmüller" bekannt. Hier werden Textilien zu Schleuderpreisen verkauft, weil das Unternehmen aus ganz Europa Restposten um wenig Geld übernimmt.

Menschen von überall pilgern nach Kritzendorf ins Mekka der textilen Schnäppchen.
Foto: Heribert Corn

Hobbybastlerinnen und Profis reisen hierher, um ein Schnäppchen zu machen und Dinge zu finden, die es sonst nirgends gibt. Dafür muss man sich auch schon einmal durch das Angebot wühlen. Das Geschäft wirkt teilweise unordentlich, "aber es ist ein organisiertes Chaos", wie Geschäftsführer Adnan Beslagic betont. Die Kunden hätten das Gefühl, hier richtige Schätze zu entdecken, sagt er – und viele, die hier schon einmal eingekauft haben, bestätigen das.

Der Moment, wenn man ein gutes Stück Material gefunden hat, fühle sich fast so gut an wie der, wenn man ein neues kreatives Projekt für sich entdeckt hat, sagt Anna Heuberger: "Es fühlt sich einfach an wie ein Fest." Auch andere Hobbybastlerinnen erzählen von diesem Moment der Vorfreude und des Tatendrangs, der fast schon ein bisschen magisch ist. (Bernadette Redl, 16.5.2023)