Nein, Natalie Portman holt sich hier keine Schminktipps von Julianne Moore – In Todd Haynes "May December" spielt sie de Schauspielerin Elizabeth, die Moores Gracie studiert, weil sie diese in einem Film verkörpert.

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Mollie (Lily Gladstone) stiehlt Leonardo DiCaprios Ernest in Martin Scroseses "Killers of the Flower Moon" die Show – leider nur bis zur Hälfte des dreieinhalbstündigen Films.

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Streitbare, kluge, manipulative und komplexe Frauenfiguren haben am Wochenende in Cannes die Leinwand erobert – wenn sie nicht gerade den Intrigen gieriger Männer geopfert wurden.

Auf Todd Haynes’ trashig-kunstvollen neuen Film May December trifft das nicht zu. Gracie war 36, als sie sich in den 13-jährigen Joe verliebte und deshalb für einige Zeit hinter Gitter musste. Zwanzig Jahre später ist das Paar noch zusammen, doch die gemeinsamen Kinder fliegen aus, und die Anwesenheit der Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman), die Gracie in einer Filmadaption verkörpern soll, bringt Unruhe in die scheinbare Eheidylle.

Weibliche Spiegelungen

Um die Problematik ihrer Beziehung nicht reflektieren zu müssen, hat sich Julianne Moores Gracie mit einer Schutzschicht aus Naivität und Mütterlichkeit gepanzert. Stoisch und zart lispelnd in Pastell erinnert Moore an ihre erste Todd Haynes-Rolle in Safe (1995). Als Gegenpart glänzt Portman als egozentrische Method-Schauspielerin in Haynes’ kunstvollem, mit Überblendungen, Spiegelungen und Transformationen spielendem Film, der dazu einlädt, über die Performanz von Weiblichkeit, die Schutz und Waffe zugleich sein kann, nachzudenken.

Es gibt keinen besseren Ort über Weiblichkeit nachzudenken als Cannes – das sah auch Natalie Portman auf der Pressekonferenz zu "May December" so.

Eine Frau, die ihre Weiblichkeit neu definieren muss, sehen wir in Nuri Bilge Ceylans About Dry Grasses. Nuray (Merve Dizdar) ist eine engagierte linke Lehrerin, die bei einem Terroranschlag ein Bein verloren und sich in ihre schneebedeckte Heimat Anatolien zurückgezogen hat. Dort begegnet sie den beiden Lehrern Kenan und Samet, die um sie werben, aber mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen haben, da sich Schülerinnen über ihr angeblich übergriffiges Verhalten beschwert haben.

Es ist jammerschade, dass Nuray nicht die Hauptfigur in Ceylans brillant inszenierter Charakter- und Milieustudie über unangepasste Mittelklassefiguren in der ländlichen Osttürkei ist. Im Zentrum steht stattdessen Samet (Deniz Celiloğlu), der im Selbstmitleid erstickt und nur Freude empfindet, wenn er die Gefühle anderer manipuliert.

Gier und Fanatismus

Ähnlich und in derselben Laufzeit von dreieinhalb Stunden verfährt Martin Scorsese in seinem Epos Killers of the Flower Moon. Auch ihm gelingt es, mit der indigenen Mollie (Lily Gladstone) eine mitreißende Frauenfigur einzuführen, nur um sie der Selbstzerfleischung gieriger Männer zu opfern.

Scorseses Film, der von Apple produziert wurde und außer Konkurrenz läuft, thematisiert die Massenmorde an Mitgliedern des indigenen Osage-Stammes in Oklahoma, die in den 1920er-Jahren aufgrund von Ölfunden großen Wohlstand anhäuften. Doch Öl und Gold ziehen Nutznießer an, in dem Fall rechtlich bessergestellte, weiße Männer. Einer davon ist Leonardo DiCaprios Ernest, der Neffe des selbsternannten Kings (Robert De Niro). Und obwohl Ernest seine Ehefrau Mollie liebt, lässt er sich vom King dazu verleiten, ihr großen Schaden zuzufügen.

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"Weißer Retter" versus "Weißer Mob"

David Granns Buchvorlage fokussierte die Ermittlungen des FBI. Der darin eingravierten "Weißer Retter"-Thematik wollte Scorsese entrinnen, indem er die Beziehung zwischen Molly und Ernest ins Zentrum rückt. Das gelingt eine ganze Weile, doch dann kippt der Film erst in einen mafiösen Killerplot, dann in ein halbherziges Gerichtsdrama und widmet seinen Löwenanteil dem teils karikaturesken Spiel von DiCaprio und De Niro. Am Ende zieht Killers of the Flower Moon schließlich mit einer True-Crime-Radioinszenierung eine spektakelhafte Metaerzählung ein, die dem Film angesichts der historischen Verbrechen nicht gut zu Gesicht steht.

Leonardo DiCaprio, Martin Scorsese und Robert De Niro bei der Premiere von "Killers of the Flower Moon" in Cannes.
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Vermauerter Fanatismus

Im Wettbewerb und preisverdächtig ist dagegen Kaouther Ben Hanias Four Daughters, der in einer experimental-dokumentarischen Nachinszenierungen die islamistische Radikalisierung zweier junger Mädchen in Tunesien und dabei ein komplexes Bild von intergenerationalem Trauma nachzeichnet.

Aus Jugendrevolte in den Dschihad – "Four Daughter" zeigt eine schleichende Radikalisierung.
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Auch Jonathan Glazers Holocaust-Drama The Zone of Interest (eine Adaption eines Romans des am Freitag verstorbenen Martin Amis) könnte die Jury durch seinen formalen Einfallsreichtum und die kontroverse Thematik überzeugen. Der Film folgt der Familie des Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höss (Christian Friedel) und seiner Ehefrau Hedi (Sandra Hüller), die sich vor der Mauer des KZs ein idyllisches Heim eingerichtet haben. Doch jedes Bild vibriert vor den Verbrechen, die hinter der Mauer stattfinden. (Valerie Dirk aus Cannes, 21.5.2023)