Am Freitag hat der deutsche Leitindex Dax, zu sehen der Bulle vor der Frankfurter Börse, ein Rekordniveau erreicht. Wie kam es dazu?

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Vom Pessimismus des vergangenen Jahres ist nicht mehr viel zu merken, zumindest an der Börse nicht. Ende vergangener Woche erreichte der deutsche Aktienmarkt ein neues Rekordhoch. Wie weggewischt wirken die Sorgen nach Beginn des Ukrainekrieges, denn die Konjunktur läuft zwar keineswegs wie am Schnürchen, aber weniger schlecht als befürchtet, und die enorm hohen Energiepreise sind inzwischen deutlich zurückgegangen. Aber ist die Zuversicht der Börsianer nicht doch etwas zu stark ausgeprägt? Schließlich erweist sich etwa die Inflation als ausgesprochen hartnäckig.

Zwar attestieren Wirtschaftsforscher dem Euroraum derzeit eine Stagflation, also eine Kombination aus wirtschaftlichem Stillstand bei hoher Teuerung. Allerdings fehlt Wachstum bloß bei realer, also preisbereinigter Betrachtung. Nominell, also inklusive der Preiserhöhungen durch die Inflation, fällt die Bilanz hingegen sogar ausgesprochen dynamisch aus: Dann wird bei siebenprozentiger Inflation in der Eurozone aus einem kleinen realen Wachstum von 1,3 Prozent auf Jahressicht ein Zuwachs von 8,3 Prozent. Da die Umsätze und Gewinne der Unternehmen vom hohen nominellen Wachstum gespeist werden, schlägt dies auch auf die Börsenkurse durch.

Zu pessimistisch

Dazu kommt, dass sich die düsteren Prognosen des Vorjahres nicht bewahrheitet haben. Um eine Rezession ist die Eurozone bisher herumgekommen. Was auch bedeutet, dass die Sicht der Börsen im Vorjahr zu pessimistisch war und es daher viel Luft nach oben gab. Viele Investierende hatten trotz steigender Kurse nur wenige Aktien im Depot. "Investoren haben sich gezwungen gesehen, wieder einzusteigen", kommentiert Marcus Poppe, Fondsmanager bei der Investmentgesellschaft DWS, gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" die Entwicklung.

Wegen der zu pessimistischen Erwartungen überraschte auch die Bilanzsaison zum ersten Quartal positiv: Die Gewinnprognosen der Analysten für europäische Aktien wurden um elf Prozent übertroffen, das Gewinnwachstum betrug im Schnitt knapp sechs Prozent. Und die Stimmung ist bei vielen trotz der jüngsten Kursanstiege noch immer sehr gedämpft: Sowohl Private als auch bei Profis erwartet jeweils die Hälfte der Investierenden in Deutschland fallende Kurse – was sogar Anlass zur Hoffnung gibt. Warum? Waren sie zu pessimistisch, dann werden die Skeptiker wahrscheinlich zu den Käufern von morgen.

EZB steigt auf Bremse

Es ist also eine Mischung aus den Auswirkungen der Inflation und übertriebenem Pessimismus, die den deutschen Leitindex am Freitag auf ein neues Rekordhoch gehievt hat. Ähnlich sieht es beim Eurozonenindex Eurostoxx 50 aus, dem nur ein paar Pünktchen auf den bisherigen Höchststand fehlen. Kann das vielleicht sogar der Startschuss zu einem längeren Rekordlauf an Europas Börsen sein?

Dies ist doch eher unwahrscheinlich. Denn die Europäische Zentralbank (EZB) steigt wegen der Teuerung auf die geldpolitische Bremse und hat den Leitzins im Rekordtempo seit Juli von null auf 3,75 Prozent erhöht – und wird wohl weitere Zinsschritte setzen, um die Inflation zu drosseln. Was anders ausgedrückt bedeutet: Der Notenbank ist das nominale Wirtschaftswachstum, das bisher die Kurse beflügelte, zu hoch. Mit nachlassendem Preisauftrieb – wovon Ökonomen im Jahresverlauf ausgehen – wird wohl auch dieser Rückenwind für die Aktienkurse schwächer.

Zudem sollten sich Investierende keinen Sand in die Augen streuen lassen. Langfristig steht vor allem der deutsche Aktienmarkt nicht so gut da, wie es ein Rekordhoch vermuten ließe. Abzüglich der Kaufkraftverluste durch die Inflation steht der Leitindex Dax um mehr als zehn Prozent unter seinem bisherigen Höchststand von Jänner 2022.

Mogelpackung Dax

Dazu kommt, dass bei dem deutschen Leitindex im Gegensatz zu fast allen anderen Börsenbarometern Dividenden berücksichtigt werden. Ohne diesen Effekt fällt die Bilanz wesentlich ernüchternder aus: Denn dem Dax-Kursindex, der nur die Preisentwicklung der Aktien abbildet, fehlt noch ein Stück auf das Hoch von Anfang 2022, und er liegt nur um 20 Prozent über dem Niveau des Hochs des Jahres 2000 – was de facto fast einem Vierteljahrhundert Stillstand gleichkommt. Noch bescheidener ist die langfristige Entwicklung des Eurostoxx 50, der etwa ein Fünftel unter dem Niveau der Jahrtausendwende liegt. Zum Vergleich: Der marktbreite US-Index S&P 500 hat sich im selben Zeitraum mehr als verdoppelt.

Wohl verdauen europäische Aktien die stark steigenden Zinsen derzeit besser als die US-Börsen. Auf lange Sicht war es der Aufstieg von Technologiefirmen wie Apple, Amazon oder Google, die für mehr als ein Viertel des S&P-500-Index stehen, der der Wall Street langfristig Aufwind verliehen hat. Und diese bleiben in Europa im internationalen Vergleich weiterhin unterrepräsentiert. (Alexander Hahn, 22.5.2023)