Wien – "Dieses Marktsystem funktioniert nicht mehr. Wir müssen es reformieren." EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fand im Juni 2022 klare Worte zu den hohen Strompreisen. Vor drei Monaten folgte den Worten ein Reformentwurf. So sollen Endkunden ein Recht auf Fixpreise bekommen, zudem sollen Kraftwerke zur Herstellung von Öko- und Atomstrom gezielt gefördert werden. Einigen Ökonomen geht das jedoch nicht weit genug, darunter auch Expertinnen der NGO Attac sowie des Österreichischen Gewerkschaftsbunds.

Die Forderung: ein "kooperativer europäischer Energieraum", in dem der Handel mit Energie über öffentlich kontrollierte Einrichtungen erfolgt. ÖGB-Chefökonomin Helene Schuberth fordert zudem die Einbindung von Betriebsräten, Gewerkschaften und der Zivilbevölkerung. Anstelle der Profitausrichtung großer Konzerne müssten leistbare Versorgungssicherheit und Klimagerechtigkeit das oberste Ziel sein. Doch was ist der Hintergrund?

Der schrittweise Umstieg von fossilen Kraftwerken auf erneuerbare Energien stellt den Strommarkt vor neue Herausforderungen. Die EU möchte mit einzelnen Maßnahmen gegensteuern, während einige Wirtschaftsforschende eine grundlegende Reform fordern.
Imago/Jochen Tack

Teures Gas treibt Strompreise

Seit rund zwei Jahrzehnten ist der Strommarkt in der EU liberalisiert, anstelle von regionalen Monopolen können sich Kunden ihren Energieversorger frei aussuchen. Lange Zeit hat das System funktioniert, die jüngsten Krisen aber haben ihm die Grenzen aufgezeigt. Infolge der Sanktionen verknappte Russland die Gaslieferungen in die EU, die Gaspreise zogen enorm an – und damit auch jene für Strom. "Schuld" daran: die Merit-Order. In dem derzeitigen Preisbildungssystem bestimmt das teuerste Kraftwerk den Preis, das noch für die Deckung des Strombedarfs benötigt wird. In der Regel ist das ein Gaskraftwerk, das somit auch die Preise für Ökostrom treibt.

"Es ist völlig absurd, dass die Preise für ein Grundbedürfnis wie Energie von Spekulationen und intransparenten Energiebörsen abhängig sind", kritisiert Ökonom Stephan Schulmeister. Wie an jeder Börse schwankten auch die Gaspreise, da sie Spekulationen unterlägen. Zwar entsprächen die Börsenpreise nicht unmittelbar den effektiven Strompreisen der Versorger, die Tarife seien jedoch sehr wohl an den Börsenindex gebunden. Auch Karina Knaus ist sich der Problematik bewusst. "Die Ausgangslage der Mitgliedsstaaten ist aber relativ unterschiedlich", erklärt die Expertin der Österreichischen Energieagentur.

Ein langwieriger Prozess

In manchen Ländern seien die Haushaltsenergiepreise an den Spotmarkt gekoppelt, Veränderungen würden somit schnell bis zu den Endkunden durchschlagen. In anderen Ländern, etwa Österreich, kämen die gestiegenen Großhandelspreise erst mit Zeitverzug an, wie dies die letzten Monate über zu beobachten war. Letztlich müsse sich die EU die Frage stellen, ob "eine Evolution ausreicht oder eine grundlegende Reform nötig ist". Für Kritiker des liberalisierten Strommarktes ist die Antwort klar.

Doch auch Energieexpertin Knaus sieht gewisse Schwächen im EU-Entwurf. "Relativ viele Maßnahmen sind freiwillig", ein harmonisierter Vorgang auf EU-Ebene sei damit potenziell schwierig. Letztlich sei es aber "nur ein Entwurf, nicht mehr". Diskussionen zu führen sei dennoch sinnvoll, denn: "Große Reformen muss man gut durchdenken, das braucht oft Jahre." (dwo, 6.6.2023)