Gastbeitrag: Matthias Sutter

Frau sitzt am Schreibtisch mit Fächer.
Studien zeigen: Wir treffen bei Hitze sogar teilweise andere Entscheidungen.
Getty Images/iStockphoto

Herkömmliche Modelle menschlichen Entscheidungsverhaltens ignorieren äußere Faktoren wie etwa Hitze komplett. In diesen Modellen spielen lediglich die Kosten und Nutzen bestimmter Entscheidungen und die vorliegenden Möglichkeiten eine Rolle, während andere Faktoren wie Hitze, Ermüdung oder die allgemeine Stimmung als unbedeutend gelten.

Psychologische Forschung zeigt aber, dass etwa Hitze, das allgemeine Wohlbefinden, die Stimmung und auch die Leistungsbereitschaft reduziert. Bei höheren Temperaturen werden Menschen weniger risikofreudig, vertrauen eher auf bisher konsumierte Produkte und damit auf die bisherigen Gewohnheiten. Das bedeutet, dass Hitze unsere menschlichen Entscheidungen verändert.

Aus der Perspektive hochindustrialisierter Länder könnte man vermuten, dass das nicht der Fall sein sollte, da mehr und mehr Büros klimatisiert sind und die Menschen in diesen Büros bei angenehmen Temperaturen arbeiten können, selbst wenn es draußen sehr warm ist. Eine interessante Studie von Anthony Heyes und Soodeh Saberian von der kanadischen University of Ottawa zeigt, dass diese Vermutung ein Irrtum ist, der sehr große Auswirkungen auf das Leben von Menschen haben kann.

Andere Urteile je nach Wetterlage

Heyes und Saberian überprüften, ob die Außentemperatur einen messbaren Einfluss auf die Entscheidungen von US-amerikanischen Richterinnen und Richtern hatte. Dazu untersuchten sie fast 207.000 richterliche Entscheidungen über Immigrationsanträge in die USA und fast 20.000 Entscheidungen über die Aussetzung einer Gefängnisstrafe zur Bewährung. Die Gerichte, in denen die jeweiligen Entscheidungen getroffen wurden, waren samt und sonders klimatisiert.

Während des Arbeitstags waren Richterinnen und Richter also vor den Außentemperaturen geschützt.

Einfluss auf die Stimmung

Heyes und Saberian erhoben für ihre Studie aber die jeweiligen Außentemperaturen und konnten damit überprüfen, ob die Außentemperatur auf die richterlichen Entscheidungen einen Einfluss hatte.

Das Ergebnis ist ein eindeutiges Ja. Bei einer Zunahme der Außentemperatur um etwa fünf Grad Celsius (zehn Grad Fahrenheit) verringerte sich die Wahrscheinlichkeit einer positiven Entscheidung bei einem Immigrationsverfahren um etwa sechs Prozent und bei einem Antrag auf Bewährung um ca. zehn Prozent.

Bei der statistischen Analyse wurden andere wichtige Faktoren – wie das übliche Entscheidungsverhalten einer Richterin oder eines Richters, die Nationalität der Antragsteller oder die Schwere des Verbrechens im Falle eines Häftlings – berücksichtigt, ohne dass sie den Einfluss von erhöhten Temperaturen beseitigt hätten.

Risikoscheuere Entscheidungen

Da die große Mehrheit der Entscheidungen in diesen Fällen negativ ausfällt, ist ein Rückgang positiver Entscheidungen als eher risikoscheu anzusehen. Dieses Muster passt sehr gut zu psychologischen Forschungsergebnissen, wonach höhere Temperaturen Menschen risikoscheuer werden lassen, sodass sie weniger "gegen den Strom schwimmen".

Ein einflussreicher Faktor dürfte dabei laut psychologischer Forschung die allgemeine Stimmung darstellen, die sich bei ungewöhnlich hohen Temperaturen im Vergleich zu "normalen" Temperaturen verschlechtert.

Das könnte die Tendenz hin zu negativen oder abschlägigen Entscheidungen erklären. Hitze reduziert laut psychologischer Forschung auch die kognitive Leistungsfähigkeit, was ebenfalls eine Rolle spielen könnte. Übrigens gibt es auch andere überraschende Faktoren, die auf die Entscheidungen von Richterinnen und Richtern einen Einfluss haben.

Beispielsweise gibt es nach Erfolgen des lokalen Footballteams wohlwollendere Entscheidungen für die Angeklagten. Auch das mag mit der Stimmung – hier nach Sportereignissen – zu tun haben. Während aber Sportereignisse mal so und mal so ausgehen, kennt die Entwicklung der globalen Temperaturen seit längerem nur eine Richtung, nämlich nach oben. Das dürfte langfristige Auswirkungen auf menschliche Entscheidungen haben. (Matthias Sutter, 10.7.2023)