Schon die ersten Aufnahmen, die im Juli 2022 veröffentlicht wurden, ließen am Potenzial des James-Webb-Weltraumteleskops keine Zweifel. Sie zeigten Galaxien, Nebel und Sterne in nie gesehenem Detailreichtum. Gleichzeitig lieferten sie atemberaubende Einblicke in die Geschichte des Universums: Webb beobachtet im Infrarotbereich und kann viel weiter in die Vergangenheit zurückblicken als andere Teleskope. Forschende wollen mit Webb, das 100-mal empfindlicher ist als sein Vorgänger Hubble, 13,5 Milliarden Jahre in die Vergangenheit zurückschauen und nach dem Licht der ersten Sterne suchen, die nach dem Urknall entstanden sind.
Ein Jahr nach den ersten Veröffentlichungen liegt eine Fülle an spektakulären Aufnahmen und wissenschaftlichen Daten vor. Das Weltraumteleskop kann die turbulente Entstehung neuer Sterne und Planeten deutlich besser sichtbar machen, als es bisher möglich war. Im Infrarotbereich lassen sich Regionen beobachten, die für uns im Verborgenen liegen, weil sie sich inmitten von Gas- und Staubwolken befinden.
Das erste Webb-Forschungsjahr brachte bereits zahlreiche Entdeckungen und wissenschaftliche Veröffentlichungen mit sich – und stellte kosmologische Theorien infrage: So erspähte das Teleskop mehrere Galaxien aus der Frühzeit des Universums, die bereits viel mehr Sterne beherbergten, als in dieser Phase zu erwarten wäre. Kürzlich enthüllten Webb-Daten das älteste je entdeckte supermassereiche Schwarze Loch, das bereits 570 Millionen Jahre nach dem Urknall entstand.
Das Teleskop hat auch das Zeug dazu, die Exoplanetenforschung revolutionieren. Webbs Instrumente können die Atmosphären ferner Planeten untersuchen und nach Molekülen Ausschau halten, die Aufschlüsse über die Bedingungen auf diesen Welten geben. Vielleicht, so hoffen Forschende, lassen sich auch Hinweise auf biologische Aktivitäten finden. Im Frühjahr gelang es erstmals, mithilfe des Teleskops Rückschlüsse auf die Temperatur auf einem erdähnlichen Planeten rund 40 Lichtjahre von uns entfernt zu bestimmen. Vor wenigen Wochen entdeckten Forschende mithilfe von Webb einen Baustein für die Entstehung von Leben in einem jungen Planetensystem:
Wie überwältigend schön ein Sternentod sein kann, hielt das Webb-Weltraumteleskop im Südlichen Ringnebel NGC 3132 fest. Die Gaswolke um den Stern, der etwa 2.000 Lichtjahre von uns entfernt ist, breitet sich mit einem Tempo von 15 Kilometern pro Sekunde aus.
Nicht minder faszinierend sind Webbs Aufnahmen von Gebieten, in denen neue Sterne entstehen. Der Tarantelnebel im Sternbild Schwertfisch ist die größte Sternengeburtsstätte in der näheren Umgebung der Milchstraße. Das Webb-Teleskop konnte die interstellaren Staubwolken dieser Formation durchdringen und den bisher besten Blick auf die helle, heiße Sternenfabrik freilegen.
Dass das neue Weltraumteleskop nicht nur grandiose Aufnahmen aus den Tiefen des Alls liefern kann, beweisen atemberaubende Aufnahmen einiger Planeten des Sonnensystems. Alle vier Gasplaneten hat das Teleskop inzwischen ins Visier genommen. Dieses Bild zeigt Jupiter in fulminanter Schönheit, die Qualität der Daten übertraf alle Erwartungen.
Vor wenigen Wochen wurde diese Saturnaufnahme veröffentlicht. Der Ringplanet wurde mit der sogenannten Nircam des Teleskops aufgenommen, die im Nah-Infrarotbereich beobachtet. Dadurch erscheint der Saturn dunkel, verantwortlich dafür ist das Methan in Saturns Atmosphäre, das Sonnenlicht absorbiert. Die methanfreien Ringe leuchten dagegen hell.
Mit Stephans Quintett nahm das James-Webb-Weltraumteleskop eine berühmte "tanzende" Galaxiengruppe in den Blick, deren Zusammenspiel Fachleute schon seit langem fasziniert: Vier der fünf Galaxien, die etwa 290 Millionen Lichtjahre von uns entfernt im Sternbild Pegasus liegen, ziehen einander gegenseitig an, verformen sich und könnten dereinst miteinander verschmelzen. Benannt ist das tanzende Quintett nach dem französischen Astronomen Édouard Jean-Marie Stephan, der es 1877 als Erster entdeckte.
Wie ein kosmisches Wagenrad oder ein Schneckenhaus mutet dieses seltene Objekt an, das aus der Kollision zweier Galaxien hervorging. Dabei entstanden zwei Ringe, die sich fortwährend ausdehnen: Der helle innere Ring besteht hauptsächlich aus heißer Materie, der äußere aus Sternenansammlungen. Als sehr unbeständig bezeichnen Fachleute den aktuellen Zustand dieser rund 500 Millionen Lichtjahre von uns entfernten Wagenrad-Galaxie. Sie wird sich weiter verändern.
An eine Kirschblüte erinnert dieses Spektakel, das vom nahenden Ende eines besonders hellen und massereichen Sterns kündet. WR 124 hat etwa die 30-fache Masse unserer Sonne, doch er stößt unaufhaltsam seine Hülle ab.
Der wissenschaftliche Andrang auf das Webb-Teleskop ist enorm. Für ein Forschungsziel und Beobachtungszeit kann sich jeder bewerben, die Auswahl nach wissenschaftlicher Relevanz erfolgt durch ein Peer-Review-Gremium. Auch für das zweite Forschungsjahr mangelte es nicht an Anträgen, wie die Nasa im Frühjahr mitteilte: 1.600 Bewerbungen von 5.450 Forschenden aus insgesamt 52 Ländern sind eingegangen. 249 Projekte wurden bewilligt.
Ein Mangel an neuen Veröffentlichungen zeichnet sich nicht ab, im Gegenteil. Webb hat sich erst aufgewärmt – im übertragenen Sinne: Denn seine Instrumente müssen extrem gekühlt werden, um gut zu funktionieren. Jenes zur Beobachtung im mittleren Infrarotbereich funktioniert am besten bei -266 Grad Celsius. (David Rennert, 9.7.2023)