Die Sonne brennt vom Himmel. "Gäbe es ein besseres Wetter, um für den Klimaschutz zu demonstrieren?", fragt ein Aktivist. In Straßburg sollte es am Dienstag tatsächlich noch 36 Grad bekommen. "What do we want?", ruft jemand in das Mikro. "Climate justice!", antwortet die Menge, die sich vor dem EU-Parlament versammelt hat. Das sogenannte Renaturierungsgesetz, über das das EU-Parlament am Mittwoch abstimmt, könnte zur Klimagerechtigkeit beitragen, ist sich die Gruppe sicher. Auch die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg protestiert mit.

Video: Vor dem EU-Parlament in Straßburg haben mehr als 300 Menschen für und gegen ein weitreichendes Naturschutzgesetz demonstriert. Unter den Befürwortern war auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg
AFP

Nur wenige Meter weiter demonstrieren Landwirtinnen und Landwirte. Ein Traktor nach dem anderen rollt die Straße zum EU-Parlament entlang, bis sie zugeparkt ist. Einzelne Abgeordnete drängeln sich durch, um zur Verhandlung zu kommen. Neben der Rednerbühne türmen sich Heuballen, davor stehen dreckige Gummistiefel. "Ja zu nachhaltiger Landwirtschaft" steht auf den Schildern und "Nein zu sinnlosen Verboten". Die Bauernvertreter, die heute hier sind, stellen sich gegen das Gesetz.

Klimaaktivistinnen und -aktivisten, darunter Greta Thunberg, demonstrieren vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Sie wollen die Abgeordneten dazu animieren, für das Gesetz zu stimmen.
Klimaaktivistinnen und -aktivisten, darunter Greta Thunberg, demonstrieren vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Sie wollen die Abgeordneten dazu animieren, für das Gesetz zu stimmen.
AFP / Frederick Florin

Mit den neuen Regelungen will die Kommission die Mitgliedsstaaten dazu verpflichten, trockengelegte Moore wiederzuvernässen, Meeresökosysteme instand zu setzen und Flüsse und Wälder naturnaher zu gestalten. Auch Äcker und Weiden sollen insekten- und vogelfreundlicher werden, und der Rückgang an Bestäubern soll aufgehalten werden. In den Städten soll mehr Grün entstehen. Um das zu erreichen, schreibt der Entwurf verbindliche Ziele vor. Konkret sollen ab 2030 mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresflächen effektiv geschützt werden. Bis 2050 sollen dann alle Ökosysteme wieder "in gutem Zustand" sein.

Bauernbund; Landwirte; Renaturierungsgesetz; Straßburg; EU-Parlament
Auf der Gegenseite waren Bauern mit Traktoren einem Aufruf des europäischen Bauernverbands Copa-Cogeca gefolgt und demonstrierten vor dem Parlament gegen das Naturschutzgesetz.
Lisa Breit

Als Begründung für ihren Vorschlag verweist die Kommission unter anderem auf einen aktuellen Bericht der Europäischen Umweltagentur (EEA): Über 80 Prozent der heute geschützten Lebensräume sind in schlechtem Zustand. Knapp über 26 Prozent der Landflächen und mehr als zehn Prozent der europäischen Meere sind heute geschützt. "Aber das allein hat nicht gereicht, um den Rückgang der Natur umzukehren", schreibt die EEA. Nur ein kleiner Teil der europäischen Schutzgebiete habe tatsächlich Verbesserungen gebracht. Das neue Renaturierungsgesetz der EU soll eine Antwort darauf sein. Es ist eines der letzten ausständigen Kernstücke des europäischen Green Deal.

Kampagne gegen das Gesetz

Um das Gesetz ist ein regelrechter Grabenkampf entbrannt – nicht nur draußen vor dem Parlament, sondern vor allem auch zwischen den Abgeordneten. Seit Monaten fährt die Europäische Volkspartei (EVP) eine Kampagne gegen das grüne Vorhaben der Kommission. Das Gesetz sei einfach schlecht, ist seither immer öfter zu hören – ein bürokratisches Monster, eine enorme Einschränkung für Landwirte in Europa.

Um gegen das Renaturierungsgesetz zu protestieren, fuhren Bauern am Dienstag mit mehreren Dutzend Traktoren vor.
Um gegen das Renaturierungsgesetz zu protestieren, fuhren Bauern am Dienstag mit mehreren Dutzend Traktoren vor.
EPA / Julien Warnand

Immer lauter trommelt die EVP gegen das Projekt – dabei kommt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die federführend hinter dem Vorhaben steht, aus der CDU und damit aus der EVP-Parteifamilie. Der Parteivorsitzende der EVP, Manfred Weber (CSU), scheint sich derzeit dennoch gegen seine Parteikollegin zu stellen. Der EU-Wahlkampf vor der Abstimmung im Frühjahr 2024 sei in vollem Gange, heißt es. Die EVP zähle auf Stimmen aus der Landwirtschaft. Es gibt auch die Vermutung, dass Weber noch eine Rechnung mit der Kommissionspräsidentin offen hat. Schließlich hatte er sich einmal selbst Chancen auf den Job ausgerechnet.

Auf Twitter verbreitet die EVP ein Foto aus der Vogelperspektive von Helsinki, auf dem Teile der Stadt weggestrichen sind. Das Gesetz würde vorschreiben, dass rund sechs Vororte für die Begrünung abgerissen werden müssten. Das Umweltdirektorat der EU-Kommission schaltet sich ein: Das sei schlichtweg falsch. Gerade Städte wie Helsinki, die bereits so grün sind, müssten deutlich weniger Anstrengungen unternehmen als Städte, die kaum Grünflächen haben.

Wissenschaft und Wirtschaft dafür

Unter Wissenschafterinnen und Wissenschaftern gibt es einen breiten Konsens für das Gesetz. In einem offenen Brief, den mittlerweile über 6.000 Forschende unterzeichnet haben, erklären sie die gängigsten Falschinformationen rund um das Gesetz. Eine davon: Das Gesetz zwinge Landwirtinnen und Landwirte dazu, zehn Prozent ihrer Anbauflächen aufzugeben. Tatsächlich bringe das Gesetz eine Rückkehr zu funktionalen Produktionsflächen, es steigere die Bestäubung, mache die Böden furchtbarer und sichere die Wasserzufuhr. Außerdem könne die Regelung die Emissionen aus der Landwirtschaft sowie den Einsatz von Chemikalien senken. Die Behauptung, das Gesetz gefährde die Ernährungssicherheit, widerspreche wissenschaftlicher Evidenz, heißt es in dem Brief weiter.

Ein weiterer Punkt, den die Forschenden einen Mythos nennen: Das Gesetz verlangsame die Energiewende. Das Gesetz stehe dem Ausbau erneuerbarer Energien nicht im Weg. Zudem seien kohlenstoffreiche Wälder ein kosteneffizienter Weg, um die Erderhitzung abzubremsen und Biodiversität herzustellen. Dasselbe gelte für Moore.

Abgeordnete im EU-Parlament in Straßburg debattieren am Vortag der Abstimmung über das Renaturierungsgesetz.
Abgeordnete im EU-Parlament in Straßburg debattieren am Vortag der Abstimmung über das Renaturierungsgesetz.
EPA / Julien Warnand

"Wir können nur beraten. Jetzt müssen die Abgeordneten entscheiden, wie sie mit Empfehlungen der Wissenschaft umgehen wollen", erklärt Josef Settele, einer der Mitverfasser des Briefs und Leiter der Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle. Er ist einer der führenden Autoren beim Weltbiodiversitätsrat sowie beim Weltklimarat. "Das Gesetz wird oft missverstanden. Nur weil es etwa für ein Gebiet mehr Artenvielfalt verlangt, heißt das nicht, dass dort keine Landwirtschaft mehr betrieben werden kann." Auch hat die EU im Dezember vergangenen Jahres in Montreal bereits neue Schritte zum Umweltschutz zugesagt. Dort unterzeichnete Europa das Globale Artenschutzabkommen, das die Staaten ausverhandelt hatten. 

Mehrere europäische Konzerne, darunter Ikea, Spar oder Nestlé, sprachen sich ebenfalls für das Gesetz aus. In einem offenen Brief fordern sie eine "dringende Verabschiedung eines ambitionierten und rechtsverbindlichen Natur-Restaurierungsgesetzes". Die Wiederherstellung der Natur helfe im Kampf gegen den Klimawandel und sei wichtig für die Ernährungssicherheit. Auch Jobs und viele Sektoren würden von gesunden Ökosystemen abhängen. 

Knappe Abstimmung

Mit dem Renaturierungsgesetz geht es an die Umsetzung dieses globalen Abkommens. Doch die Abstimmung im EU-Parlament am Mittwoch dürfte denkbar knapp werden. Im Umweltausschuss Ende Juni wurde das Gesetz mit 44 zu 44 Stimmen abgelehnt – die EVP hatte geschlossen gegen das Vorhaben gestimmt. Allerdings holte die Partei auch Abgeordnete zur Abstimmung, die eigentlich nicht im Umweltausschuss sitzen. Der Vorsitzende des Umweltausschusses, Pascale Canfin, warf dem EVP-Vorsitzenden Manfred Weber in der Folge Manipulation vor. EVP-Abgeordnete antworteten: Einige Fraktionsmitglieder seien sich nicht sicher gewesen und hätten selbst darum gebeten, ausgetauscht zu werden.

Die Umweltministerinnen und Umweltminister der EU-Staaten hatten zuvor für die Verordnung gestimmt – auch vier EVP-Minister sprachen sich für das neue Gesetz aus.

Bei der Debatte im EU-Parlament am Dienstag versuchten die beiden Seiten abermals, für ihre Position zu werben. "Es geht um viel", sagte etwa die grüne Abgeordnete Caroline Roose. Schließlich seien 80 Prozent der Lebensräume in der EU gefährdet. Bei der Bekämpfung des Klimawandels spiele die Wiederherstellung der Natur eine zentrale Rolle. Ohne sie werde es schwer, die Klimaziele zu erreichen. Nicht das Gesetz, sondern die Bedrohung der Diversität gefährde die Lebensmittelsicherheit. "Wir stehen zu dem Green Deal, aber das Gesetz ist schlecht gemacht", antwortet Christine Schneider von der Europäischen Volkspartei. Klimaschutz könne nicht zulasten der Bauern passieren. Der Ton ist rau, die Fronten verhärtet.

Am Mittwoch stimmen die EU-Abgeordneten ab. Beobachterinnen und Beobachter vermuten, dass auch einige Konservative für das Gesetz stimmen könnten. Die Entscheidung werde jedenfalls knapp ausfallen, heißt es. Sollte das Gesetz nicht angenommen werden, geht es zurück an die Kommission, und der Prozess fängt von neuem an. Das würde das Vorhaben voraussichtlich um mehrere Jahre verzögern. (Lisa Breit aus Straßburg, Alicia Prager, 12.7.2023)