Der Chemieverband sieht gar die Gefahr der Deindustrialisierung in Deutschland und fordert einen vergünstigten Industriestrompreis.
Entwickelt sich Deutschland
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Es ist nur ein sehr kleiner Lichtstrahl, und er reicht wohl nicht aus, um das Dunkel nachhaltig zu erhellen, in dem sich die deutsche Wirtschaft derzeit befindet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist zwar laut dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden nach zwei Quartalen in Folge nun von April bis Juni 2023 nicht mehr gesunken, die sogenannte technische Rezession damit beendet worden.

Doch es gab, anders als von Experten erwartet, auch kein Wachstum. Nach minus 0,4 Prozent im vierten Quartal 2022 und minus 0,1 Prozent im ersten Quartal 2023 verzeichnete man in Wiesbaden im dritten Quartal einen Wert von 0,0.

Und auch die Aussichten auf die kommenden Monate sind alles andere als rosig. Viele Ökonomen rechnen damit, dass Europas größte Volkswirtschaft 2023 insgesamt leicht schrumpfen wird – laut Bundesbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) um 0,3 Prozent.

Vor drei Monaten war der IWF noch von einem Rückgang um 0,1 Prozent ausgegangen, er hat sich mittlerweile aber korrigiert. Deutschland ist damit der einzige Staat der weltweit stärksten Industrienationen (G7), bei dem sich die Prognose nicht verbesserte.

"Die Lage der deutschen Wirtschaft verdüstert sich", sagt Clemens Fuest, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Und Thomas Obst, Senior Economist am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, erklärt: "Deutschland ist das Schlusslicht Europas. Selbst im Brexit-geplagten Vereinigten Königreich läuft es besser."

Zurückhaltung beim Konsum

Die Rede ist wieder vom "kranken Mann Europas". Als dieser galt die Bundesrepublik vor der Jahrtausendwende, die Bezeichnung prägte das britische Wirtschaftsmagazin Economist im Juni 1999. Maßgeblich zur Erholung trugen ein paar Jahre später die Sozialreformen (Agenda 2010 / Hartz IV) von SPD-Kanzler Gerhard Schröder und der damaligen rot-grünen Bundesregierung bei.

Doch warum ist die Lage nun wieder so düster? "Es ist ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren", sagt Obst. Zu Buche schlägt vor allem die Inflation. Obst: "Diese ist zäh, schwächt den privaten und staatlichen Konsum." In der Eurozone liegt sie bei 5,3 Prozent, in Deutschland bei 6,2 Prozent. "Viele Menschen halten sich wegen der unsicheren Lage zurück und wollen jetzt nicht kaufen", sagt Obst.

Zudem laufe, wegen der schwachen Weltkonjunktur, der "Exportmotor nicht rund". In China ist auch nach dem Ende der Corona-Pandemie keine allzu große Kauflust zu sehen.

Der IW-Experte sieht noch eine für Deutschland spezifische Ursache: "Die Energiekrise ist noch nicht vom Tisch. Das trifft uns besonders hart, weil wir so einen hohen Anteil an verarbeitendem Gewerbe haben. Auftragseingänge aus dem Ausland gehen auch zurück, zugleich verlagern deutsche Unternehmen ihre Investitionen ins Ausland."

Auf der Verliererstraße

Ungewöhnlich besorgt äußern sich derzeit auch die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft. So erklärt Siegfried Russwurm, Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI): "Deutschland befindet sich wirtschaftlich auf der Verliererstraße, insbesondere im internationalen Vergleich." Der Chemieverband sieht gar die Gefahr der Deindustrialisierung in Deutschland und fordert einen vergünstigten Industriestrompreis.

Den würde der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auch gerne gewähren, doch Finanzminister Christian Lindner (FDP) ist dagegen. Er verweist auf die angespannte Haushaltslage und darauf, dass direkte staatliche Hilfen dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft widersprächen.

Lindner setzt stattdessen auf sein neues "Wachstumschancengesetz", das der Wirtschaft sieben Milliarden Euro an Ersparnis bringen soll. Dessen Kernstück ist eine staatliche Förderung für Klimaschutzmaßnahmen. Zudem will der Finanzminister Forschung stärker fördern und bei Verlustrechnungen großzügiger sein.

Eine "kleine Steuerreform" nennt Lindner seinen Entwurf stolz. Für Habeck hingegen ist es bloß ein "zarter Anfang für das, was wir brauchen, aber es reicht eben nicht".

"Dass die Ampelregierung zerstritten ist, merkt man auch an ihren Strategien, diese sind sehr kleinteilig und gehen oft gegeneinander", sagt Obst.

Seit 2010 habe es in Deutschland keine wesentliche Unternehmensteuerreform mehr gegeben. Diese wäre aber nötig. Und er hat noch eine Erwartung an den Staat: "Die öffentliche Investitionstätigkeit in die Infrastruktur müsste eigentlich viel stärker sein." (Birgit Baumann aus Berlin, 2.8.2023)