Diätologin Carolina Reitmann genießt ein Stück Kuchen
Das Wichtigste am Essen ist der Genuss, findet Diätologin Carolina Reitmann. Doch viele Menschen haben diesen intuitiven Zugang verlernt.
Katina Fridrik Fotografie

Essen gehört zu den einfachsten Sachen der Welt – und gleichzeitig ist es für manche eine der kompliziertesten. Gesund soll es sein, nicht zu viel Zucker darf rein, die Figur will man halten, Gemüse ist so wichtig, aber Obst nur in Maßen, denn es enthält zu viel Fruchtzucker, nur dreimal am Tag darf man essen, idealerweise schiebt man noch ab und zu ein Intervallfasten ein oder begrenzt zumindest die Zahl der Kalorien. Die Liste mit Regeln und Vorgaben ließe sich endlos fortsetzen.

All das erzeugt aber in erster Linie eines: Stress. Das ist auch der Grund, warum Carolina Reitmann ihren Traumjob im Krankenhaus aufgegeben hat. Die Diätologin wollte immer mit Menschen arbeiten und ihnen helfen, sich gesünder zu ernähren. Doch die vielen Regeln, die im Spital vermittelt wurden, waren für sie nicht befriedigend, weil sie für viele einfach nicht zu schaffen waren. Irgendwann hat sie dann gekündigt.

Sie entdeckte das Konzept des intuitiven Essens, bei dem der Körper vorgibt, wann er Hunger hat, worauf er Lust hat und wie viel davon er haben will. Und ist damit extrem erfolgreich. "Zu mir in die Beratung kommen die Leute, wenn sie ausdiätet sind, wenn nichts mehr funktioniert", erzählt sie im STANDARD-Interview. Ein Gespräch darüber, wie man wieder lernen kann, Essen zu genießen, warum das praktisch immer mit der Kindheit zusammenhängt und weshalb streng gesunde Ernährung kontraproduktiv ist.

STANDARD: Wenn man übers Essen spricht, hat das eigentlich auch immer mit Emotion zu tun. Oft mit Genuss und anderen schönen Empfindungen, aber sehr oft ist auch Angst oder Schuld dabei. Angst, zuzunehmen, ungesund zu essen, Schuld oder Scham, weil man es nicht schafft, nicht zu den Chips oder zur Schokolade zu greifen. Woran liegt das?

Reitmann: Das liegt daran, dass wir alle essen und dass wir alle Essen brauchen. Wir können nicht ohne Nahrung auskommen, und sie ist mit vielen gesellschaftlichen Ritualen verbunden. Dazu kommt, dass wir in der absoluten Fülle leben, Essen ist unbegrenzt und immer verfügbar. Also versucht man diese Fülle zu kontrollieren, indem man sie in gute und böse Nahrungsmittel einteilt, in gesunde und ungesunde. Isst man gesunde Nahrungsmittel, macht man es richtig, ernährt man sich dagegen ungesund, ist es falsch. Das macht es so emotional.

Wenn einem zum Beispiel als Kind die Mama immer gesagt hat, dass Süßigkeiten ungesund sind und dass man nicht so viele essen darf, dann kann es sein, dass man im Erwachsenenalter bei einem Stück Schokolade ganz unbewusst jedes Mal ein schlechtes Gewissen hat, sich vielleicht sogar schuldig fühlt oder sich schämt, weil man sich nicht besser beherrscht. Darüber denkt man natürlich nicht bewusst nach, aber es führt dazu, dass man sich unwohl fühlt in seinem Körper.

STANDARD: Aber es gibt ja auch viele Menschen, die einfach gern genießen?

Reitmann: Natürlich, und das ist großartig. Die essen zum Beispiel ein Eis und freuen sich, weil es ihnen schmeckt. Aber es gibt auch viele gesellschaftliche Vorstellungen und Erwartungen, gerade für Frauen, wie man auszusehen hat. Nach einer Schwangerschaft bald wieder eine schlanke Figur zu haben steht etwa dafür, wie diszipliniert man ist. Essen hat also sehr viel mit dem Selbstwertgefühl zu tun, schafft man es nicht, abzunehmen, bedeutet das für viele unbewusst, sie sind nicht diszipliniert, sie sind zu schwach, sie können es einfach nicht, dafür schämen sie sich dann. Und nicht nur die Menschen, die mit dem Gewicht oder dem eigenen Körperbild kämpfen, denken das über sich selbst. Auch die Gesellschaft denkt das über sie.

Das Ganze ist ein echter Teufelskreis. Menschen, die sich in ihrem Körper unwohl fühlen, ziehen sich dann oft zurück, verstecken sich. Daraus entstehen aber Einsamkeit und Traurigkeit. Manche sind auch wütend auf sich selbst. Und dann greifen Sie wieder zum Essen, weil das tröstet sie, kurzfristig zumindest, und es ist ja ohnehin schon egal. Das dreht sich dann immer weiter, und viele finden keinen Ausstieg.

STANDARD: Betrifft das in erster Linie Mädchen und Frauen? Oder kennen das Männer auch? Man hat den Eindruck, auch bei ihnen nimmt der Körperkult zu ...

Reitmann: Das stimmt absolut. Aber Männer gehen da weniger ins Außen, sie sprechen nicht so viel darüber, holen sich auch weniger oft Unterstützung. Frauen diskutieren Figur und Gewicht ja ständig, tauschen sich über Diäten aus und besprechen, wie es ihnen damit geht. Ich habe den Eindruck, das fällt Männern schwerer. Dabei wäre es so wichtig.

STANDARD: Aber warum gibt es beim Essen eigentlich so viele Regeln? Geht es da um Kontrolle über den eigenen Körper?

Reitmann: Ganz sicher. Aber das Thema Essen ist auch sehr stark mit Angst behaftet. Unsere Gesellschaft wird immer dicker, Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Adipositas sind auf dem Vormarsch. Wie bekommt man das in den Griff? Indem man Regeln aufstellt. Dadurch muss man sich aber automatisch den ganzen Tag Gedanken machen übers Essen. Darf ich das? Ist es gesund? Hab ich genug Abstand zwischen den Mahlzeiten? Oder hab ich jetzt wieder einmal über die Stränge geschlagen?

Das führt aber dazu, dass der Körper seine Intuition und seine somatische Intelligenz restlos verliert. Weil an sich weiß jeder Körper, was er braucht und was ihm nicht guttut. Durch Erziehung, strikte Ernährungsregeln und zahlreiche Verbote haben viele aber verlernt, diese Intuition wahrzunehmen. Wenn ich aber meinem Körper nicht mehr vertrauen kann, dann brauche ich einen Satz an Regeln, an dem ich mich orientieren kann.

STANDARD: Woher kommt diese Unsicherheit dem eigenen Körper gegenüber? Und warum entwickeln manche sie, andere aber nicht?

Reitmann: Das sind Prägungen, die auf die Kindheit zurückgehen. Jedes Kind kommt mit einem intuitiven Gespür dafür auf die Welt, wie viel Hunger es hat, was ihm guttut, was es nicht verträgt, ob jetzt Gemüse angesagt ist oder eher Kohlenhydrate. Und dann hören sie von den Eltern, dass sie mehr Gemüse essen sollen, weniger Zucker, dass sie aufessen müssen oder auch dass sie doch gar keinen Hunger haben können, sie hätten ja erst vor einer Stunde gegessen. Oft wird auch die Süßigkeit als Belohnung dafür versprochen, dass man davor sein Gemüse aufisst.

Das Kind hat aber vielleicht gerade eine Wachstumsphase und braucht mehr Energie. Oder es spürt intuitiv, dass es ein bestimmtes Gemüse nicht so gut verdauen kann. Bei den Kleinen ist die Verdauung ja noch nicht ganz fertig entwickelt. Durch die elterlichen Vorgaben lernen sie also nicht, gesund zu essen. Sie lernen dadurch nur, dass sie ihre eigene Intuition übergehen.

Diätologin Carolina Reitmann man einen Handstand
Diätologin Carolina Reitmann unterstütztMenschen dabei, wieder entspannt essen zu lernen. Regeln gibt es dabei keine. Nur auf die Waage darf man sich nicht stellen.
Katina Fridrik Fotografie

STANDARD: Aber dann müssten ja alle Menschen ein gestörtes Körpergefühl entwickeln? Weil gerade Süßigkeiten rationieren ja die meisten Eltern ...

Reitmann: Nur ein paar Regeln allein werden diese Intuition eher nicht zerstören, das stimmt. Es gibt viele Faktoren, die da mitspielen. Aber Essen hat eine wesentliche Rolle. Und auch der Bezug der Eltern zum Essen ist relevant. Wird nebenher, womöglich sogar versteckt gegessen, oder gibt es einen Familientisch? Stresst es zum Beispiel die Mutter, wenn das Kind schon wieder Kekse isst? Manche Eltern machen auch ihr Lob oder ihre Anerkennung davon abhängig, ob man das für sie Richtige gemacht hat. Oder sie haben Angst, dass ihr Kind zu dick wird. Ein Klient hat mir einmal erzählt, dass seine Mutter ihm immer den Kuchen verboten hat. Dann ist er zu seiner Oma gefahren und hat ihn dort einfach heimlich gegessen.

STANDARD: Wie funktioniert das intuitive Essen nun konkret? Kann man das auch als erwachsene Person lernen?

Reitmann: Ja, das kann man natürlich lernen. Aber es ist nicht ganz so einfach wie es klingt. In der Theorie bedeutet es, man isst dann, wenn man Hunger hat, hört auf, wenn man satt ist, und greift zu dem, was einem schmeckt und worauf man gerade Lust hat. In der Praxis ist das aber für viele wirklich schwer. Und da versuche ich, die Menschen zu begleiten.

STANDARD: Und wie gelingt das?

Reitmann: Aus meiner Sicht gibt es da drei ganz wichtige Schritte. Der erste ist, das eigene Hungergefühl wieder zu spüren. Hunger ist nämlich für viele etwas ganz Schreckliches, es bedeutet ja, dass man essen muss. Und das sind schon wieder Kalorien, also verdrängt man den Hunger und lässt sich nicht auf dieses Gefühl ein. Man muss aber seinen Hunger spüren, um festzustellen, welche Art von Hunger das ist. Geht es wirklich um Essen, weil der Körper Energie braucht? Oder ist man vielleicht gestresst? Traurig? Unglücklich? Einsam? Essen dient ja sehr oft dazu, andere Gefühle zu übertünchen. Erst wenn man diese verschiedenen Arten von Hunger wieder kennengelernt hat, weiß man auch, bei welchem Hunger man wirklich essen soll.

Der nächste Schritt ist zu entdecken, wann man satt ist. Und zwar auf eine angenehme Art und Weise, ohne Völlegefühl oder dass einem das Essen aufstößt. So viele Menschen, die sich den Hunger nicht zugestehen, essen erst, wenn sie im absoluten Heißhunger sind. Und dann essen sie viel zu schnell und viel zu viel, das angenehme Sättigungsgefühl kann sich nicht durchsetzen.

Spürt man das wieder, ist der dritte Schritt, dass man seine emotionalen Trigger entdeckt. Was löst den Stress oder die Traurigkeit aus, die einen zum Essen greifen lassen? Bei einigen ist Essen als Kompensationsstrategie so internalisiert, dass sie gar nicht immer richtig mitbekommen, dass sie schon wieder zugreifen. Diese emotionalen Trigger gilt es aufzulösen. Das ist aber oft unangenehm oder sogar schmerzhaft, weil oft viel hochkommt, das gar nichts mit Essen zu tun hat. Deshalb braucht es viel Kraft und auch Mut, da hinzuschauen.

STANDARD: Das klingt anstrengend ...

Reitmann: Ja, das ist es auch. Ich erkläre meinen Klienten immer, das ist wie eine Paarberatung. Der Körper will wissen, was es zu essen gibt. Und das Gehirn sagt "Du spinnst, es gibt nichts zu essen". Über die Jahre sind Körper und Kopf irgendwann komplett zerstritten, und die beiden müssen wieder zusammenfinden. Der Kopf muss lernen, dem Körper wieder zu vertrauen, dass sein Gefühl stimmt. Er darf ruhig mitreden, aber er darf das Gefühl nicht überwältigen. Wenn man das schafft, wird man wieder zu einem absolut coolen Team.

Aber das ist ein Prozess, der auch eine Weile dauert. Ich sage meinen Klienten auch, sie sollen sich währenddessen nicht auf die Waage stellen. Und ich verspreche niemandem, dass er oder sie abnimmt. Manche nehmen dann auch zu, es kommen ja nicht nur Übergewichtige zu mir. Am Ende steht der Genuss im Vordergrund – und das natürliche Empfinden, was einem guttut und was nicht. Wenn man das schafft, dann wird man irgendwann auch zu dem für einen selbst idealen Gewicht kommen. Der Körper pendelt sich darauf ein, der will ja nicht mehr oder weniger wiegen, als für ihn passend ist. Ungesund ist ja nicht, wenn man nach medizinischen Standards vielleicht ein paar Kilo zu viel hat. Ungesund sind die starken Gewichtsschwankungen, die viele Menschen mit einer Essensgeschichte durchmachen. (Pia Kruckenhauser, 5.8.2023)