Protestmarsch
Ukrainerinnen und Ukrainer protestieren gegen den Angriffskrieg Russlands gegen ihr Heimatland. Auch in etlichen europäischen Städten gibt es seit Februar 2022 Solidaritätsbekundungen.
APA/AFP/DANIEL MIHAILESCU

Europa verändert sich. Die Krise in Syrien und der Angriffskrieg Russlands führten zu neuen Migrationsbewegungen. Ende 2015 suchten 2,3 Millionen Menschen in Europa um Asyl an. Die von Russland ausgelöste humanitäre Notsituation in der Ukraine führte 2022 zur Aufnahme von mehr als acht Millionen ukrainischen Staatsbürgern in Europa. Zeitgleich wurden die Fluchtbewegungen intensiv in Politik und Zivilgesellschaft debattiert – damals wie heute.

Veränderte sich die Einstellung und Solidarität gegenüber Geflüchteten in der europäischen Bevölkerung durch die Zuwanderung in den letzten Jahren? Diese Frage stellten sich Dominik Hangartner von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), Kirk Bansak von der Universität Berkeley und Jens Hainmüller von der Stanford University, Kalifornien. Dafür befragten sie insgesamt 33.000 Wahlberechtigte in 15 europäischen Ländern in den Jahren 2015 sowie 2016 und erneut im Jahr 2022.

Fluchtgrund und Arbeitserfahrung zentral

Die Ergebnisse zeigen eine großteils unveränderte Meinung der europäischen Bevölkerung gegenüber Asylbewerbern. Hauptgrund für Sympathien gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine ist demzufolge nicht unbedingt ein allgemeiner Sinneswandel, wie von politisch Verantwortlichen oft verkündet. Vielmehr ist die Akzeptanz ukrainischer Geflüchteter die Folge demografischer Merkmale.

Nicht unbedingt die Nationalität, aber ihre Religion und Vorkenntnisse sind dabei relevant. Eine frühere Beschäftigung, insbesondere in hochqualifizierten Berufen wie Buchhaltung, Lehrtätigkeiten oder als Mediziner, werden positiv gesehen. Flüchtlinge, denen Folter droht oder die einer solchen ausgesetzt waren, werden von den Befragten ebenfalls positiver bewertet. Geflüchtete, die dem Islam angehören oder die Sprache des Aufnahmelandes nicht sprechen, werden in der Umfrage niedrigere Zustimmungswerte zugesprochen.

Diese Erkenntnis steht in Zusammenhang mit der öffentlich und politisch oftmals beschworenen Willkommenskultur in Europa Anfang 2022. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) zeigte 2022, dass ukrainische Flüchtlinge mehrheitlich weiblich, jung, christlich und gebildet waren. Vor einem Krieg flüchtende Menschen werden außerdem viel eher akzeptiert, als solche, die aufgrund der wirtschaftlichen Lage vor Ort fliehen. Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass die Unterstützung für Asylbewerber trotz der wiederholten Krisen insgesamt leicht zunahm und sich nun auf alle Flüchtlinge erstreckt, nicht nur auf ukrainische Staatsbürger.

Repräsentative Meinungsumfrage

Die erste großangelegte Meinungsumfrage wurde 2015 und 2016 unter rund 18.000 wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern in 15 europäischen Ländern durchgeführt. Die zweite folgte im Mai und Juni 2022 mit 15.000 Befragten, beinahe zeitgleich mit der humanitären Notlage in der Ukraine. Die Forschung basiert auf der Conjoint-Methode, bei der die Teilnehmenden aufgefordert werden, eine Wahl zwischen randomisierten Profilen von Asylbewerbern zu treffen, die sich in mehreren Merkmalen unterscheiden.

In diesen Merkmalen findet sich Herkunftsland, Religion, Migrationsgründe, Alter und Sprachkenntnisse. Conjoint-Umfragen sind in der Politikwissenschaft eine beliebte Methode für die Analyse mehrerer Präferenzen. Bei richtiger Durchführung können mit diesen Experimenten die Auswirkungen politischer Einstellungen auf Entscheidungen erhoben werden.

Die Auswahl der insgesamt 33.000 Befragten ist repräsentativ und hat laut den Forschern hohe Aussagekraft: Sie spiegeln das Wahlverhalten der Befragten wider. Pro Land wurden die Verhältnisse zwischen Gender, Alter und Bildungsniveau berücksichtigt. Auch die Methode zur Stichprobenauswertung war in beiden Umfragen exakt dieselbe. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Studie durch die Tatsache eingeschränkt ist, dass in den Jahren zwischen 2016 und 2022 keine Daten erhoben wurden. Daher gibt es keine Gewissheit über Schwankungen der öffentlichen Meinung über den gesamten Zeitraum.

Ethische Abwägungen

Auch wenn Teile des Studienergebnisses sicher nicht überraschen, so ist es doch ein weiteres Puzzleteil in Anbetracht der politischen Lage in Europa. In einer möglichen politischen Umsetzung sind die Erkenntnisse ethisch durchaus relevant. Im Gespräch mit Fachleuten aus der Migrationsforschung wird erneut klar: Die Logik, dass manche Menschen aufgrund ihrer Ausbildung, ihres Alters oder ihres Aussehen als eher mit der österreichischen Bevölkerung kompatibel wahrgenommen werden als andere, ist ein fatales Zeichen gegenüber bereits hier lebenden Muslimen. Bereits seit den 1960er- und 1970er-Jahren ist Österreich eine multikulturelle Gesellschaft. Letztlich muss der Flüchtlingsschutz in Übereinstimmung mit den Menschenrechten und der Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen an erster Stelle stehen. (Sebastian Lang, 9.8.2023)