Bayerns Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger
Bayerns Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger bei einer Veranstaltung.
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München/Berlin – Mitten im bayerischen Landtagswahlkampf ist der Vize-Ministerpräsident des süddeutschen Bundeslandes, Hubert Aiwanger, mit Vorwürfen im Zusammenhang mit einem antisemitischen Flugblatt aus Schulzeiten konfrontiert worden. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat seinen Stellvertreter aufgefordert, die Vorwürfe umgehend aufzuklären. "Diese Vorwürfe müssen jetzt einfach geklärt werden. Sie müssen ausgeräumt werden und zwar vollständig", sagte Söder am Samstag am Rande eines Termins in Augsburg. Später räumte Aiwangers Bruder ein, dass er das Flugblatt geschrieben habe.

"Ich bin der Verfasser des in der Presse wiedergegebenen Flugblattes", hieß es in einer persönlichen Erklärung des Bruders, die ein Sprecher von Aiwangers Freien Wählern am Samstagabend weiterleitete. "Ich distanziere mich in jeder Hinsicht von dem unsäglichen Inhalt und bedauere sehr die Folgen dieses Tuns. Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen war. Ich war damals noch minderjährig."

Zuvor hatte der Freie-Wähler-Chef die Vorwürfe zurückgewiesen. "Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend," erklärte Aiwanger in einer schriftlichen Erklärung. "Der Verfasser des Papiers ist mir bekannt, er wird sich selbst erklären." Weder damals noch heute war und und sei es seine Art gewesen, "andere Menschen zu verpfeifen", erklärte Aiwanger. Die "Süddeutsche Zeitung" hatte über das Flugblatt berichtet. Der "SZ" ließ Aiwanger zuvor über einen Sprecher mitteilen er werde "gegen diese Schmutzkampagne im Falle einer Veröffentlichung juristische Schritte inklusive Schadenersatzforderungen" ergreifen.

"Ein oder wenige Exemplare in meiner Schultasche"

Laut "Süddeutsche Zeitung" ist das Flugblatt vor mehr als 30 Jahren aufgetaucht. Hubert Aiwanger ist heute 52 Jahre alt. "Bei mir als damals minderjährigen Schüler wurden ein oder wenige Exemplare in meiner Schultasche gefunden", erklärte Aiwanger am Samstag zu dem Flugblatt. "Daraufhin wurde ich zum Direktor einbestellt. Mir wurde mit der Polizei gedroht, wenn ich den Sachverhalt nicht aufkläre." Seine Eltern seien in den Sachverhalt nicht eingebunden gewesen. Als Ausweg sei ihm angeboten worden, ein Referat zu halten. "Dies ging ich unter Druck ein. Damit war die Sache für die Schule erledigt." Aiwanger fügte hinzu: "Ob ich eine Erklärung abgegeben oder einzelne Exemplare weitergegeben habe, ist mir heute nicht mehr erinnerlich. Auch nach 35 Jahren distanziere ich mich vollends von dem Papier."

Laut "SZ" war das Flugblatt offenbar die Reaktion auf einen Schülerwettbewerb zur deutschen Geschichte. Das Pamphlet ruft zur Teilnahme an einem angeblichen Bundeswettbewerb auf: "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" Bewerber sollten sich "im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch" melden, hieß es darin. Als erster Preis wurde "Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" ausgelobt. Weiter zu gewinnen sei "Ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab". Nach Informationen der Zeitung war Aiwanger damals in der elften Klasse des Gymnasiums, zwei Jahre später legte er dort sein Abitur ab.

Faeser fordert Aufklärung

Zu dem von der "SZ" berichteten Flugblatt sagte Söder: "Es sind schlimme Vorwürfe im Raum. Dieses Flugblatt ist menschenverachtend, geradezu eklig." Aiwanger sollte ursprünglich auch zu dem Termin auf einem Volksfest in Augsburg kommen. Er war aber nicht erschienen. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser äußerte sich zum Bericht: Die "schwerwiegenden Vorwürfe" müssten dringend aufgeklärt werden, schrieb sie im Kurzbotschaftendienst X. "Wer die Opfer von Auschwitz verhöhnt, darf in unserem Land keine Verantwortung tragen", so Faeser.

SPD-Chefin Saskia Esken sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe am Sonntag vorab: "Wenn die Vorwürfe gegen Hubert Aiwanger zutreffen, muss Markus Söder umgehend Konsequenzen ziehen und seinen Stellvertreter entlassen." Selbst wenn Aiwanger das Flugblatt nicht selbst verfasst habe, es aber mit sich getragen und verteilt haben sollte, ließen die widerlichen und menschenverachtenden Formulierungen Rückschlüsse auf die Gesinnung zu, die dem Blatt zugrunde gelegen hätten. "Wer solche Gedanken denkt, aufschreibt und verbreitet, darf keine politische Verantwortung in Deutschland tragen", sagte Esken.

Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte, sollten die Vorwürfe zutreffen, sei Aiwanger als stellvertretender Ministerpräsident von Bayern "untragbar". "Derartige menschenverachtende Äußerungen über Opfer des Holocaust dürfen von niemandem – auch nicht Jugendlichen – geäußert werden", sagte er der "Bild am Sonntag". Dies müsse Konsens aller demokratischen Parteien sein.

Der Zentralrat der Juden betonte, dass der Inhalt auch 35 Jahre später zu verurteilen sei. "Inwiefern Hubert Aiwanger für die Verbreitung zumindest mitverantwortlich ist, wird in Gänze nicht aufzuklären sein. Die Diskussion darüber ist erkennbar politisch", sagte der Präsident des Zentralrats, Josef Schuster, am Sonntag in Berlin.

"Der Text eines Flugblattes, das auf der damaligen Schule des stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten zirkulierte und von dessen Bruder erstellt worden sei, ist auch heute nicht minder verwerflich, da er die Millionen Opfer der Shoa auf abscheuliche Weise verunglimpft", betonte Schuster. "Das Flugblatt darf aber auch nicht einfach als Jugendsünde abgetan werden, da es die für unser Land so wichtige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus regelrecht mit Füßen tritt."

Landtagswahl im Oktober

Die bayerische Opposition reagierte ebenfalls erbost. Die SPD-Fraktion kündigte an, eine Sondersitzung des Bayerischen Landtags zu beantragen und forderte die Entlassung Aiwangers. Ähnlich äußerten sich die Jusos Bayern und die Jugendorganisation der Grünen im Freistaat.

In Bayern wird am 8. Oktober ein neuer Landtag gewählt. Die CSU hatte stets erklärt, die Koalition mit den Freien Wählern fortsetzen zu wollen. (APA, Reuters, red, 26.5.2023)