Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Folgen für Europa waren beim Forum Alpbach allgegenwärtig. Die Bedeutung Osteuropas in der EU wächst. Die Gemeinschaft steht unter Handlungsdruck. Sie wird die EU-Erweiterung beschleunigen müssen, um Demokratie und Wohlstand abzusichern, die Sicherheitsarchitektur mit der Nato neu gestalten, erklärt der Ständige Vertreter der EU-Kommission in Wien, Martin Selmayr.

STANDARD: Beim Forum Alpbach wurde als Generalthema diskutiert, ob Europa "bold" ist, englisch für mutig, kühn, entscheidungsfreudig, genug, um in der globalen Welt bestehen zu können. Trifft das zu?

Selmayr: Als Thema ist das genau richtig. Ich übersetze es mit "selbstbewusstes Europa". Umfragen zeigen, dass sich Menschen gerade in Zeiten der Unsicherheit von Populisten angezogen fühlen, die behaupten, es werde alles immer schlechter. Daher ist es wichtig, selbstbewusst zu sein und zu zeigen, wie viel eigentlich gut funktioniert.

STANDARD: Konkret?

Selmayr: Nehmen wir die vergangenen drei Jahre. Bei drei großen Krisen – Pandemie, Energiekrise und Krieg – hat Europa zusammengehalten und gezeigt, was es leisten kann. Wer jetzt nur raunzt, treibt die Menschen den Populisten zu.

STANDARD: "Bold" könnte man auch mit fett, mit übersättigt übersetzen.

Selmayr: Ihre Frage zeigt, dass man gerade im deutschsprachigen Raum gerne dazu neigt, immer erst einmal Negatives zu suchen. Nein, wir müssen uns auf unsere gemeinsamen Stärken besinnen. Es geht letztlich um unsere Demokratie. Derzeit wollen zehn Staaten der Europäischen Union beitreten. Das ist ein Kompliment für die Stabilität, die Freiheit und den Wohlstand in Europa, für die Ausstrahlung, die wir gemeinsam heute haben. Es ist auch ein Appell, die aktuellen Herausforderungen geeint und entschlossen anzugehen. Das wird nicht gelingen, wenn wir verzagt sind.

EU, Nato, europäische Sicherheitsarchitektur. Vieles ist gerade im Fluss.
EPA/SERGEY DOLZHENKO

STANDARD: Was sind die Herausforderungen?

Selmayr: Wenn wir am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, nicht sofort mit Sanktionen reagiert und Solidarität mit der Ukraine gezeigt hätten, hätte Putin schon am ersten Tag gewonnen. Es ist wichtig, dass man schnell ist, "bold", und auch gleich liefert.

STANDARD: Aber die Krise ist real. Europa ist ein reicher Kontinent, dennoch gibt es gerade große Probleme mit der Inflation, Abstiegsängste der Menschen. Das zieht breite Kreise. In Deutschland hat die extrem rechte AfD großen Zulauf.

Selmayr: Und dennoch sind viele Ängste ungerechtfertigt. Den USA geht es, was die gesellschaftliche Spaltung betrifft, viel schlechter als Europa. Die AfD ist vor allem ein ostdeutsches Phänomen. Es gibt in Europa keinen Rechtsruck, sondern eine sehr stabile Mitte. Wirtschaftlich ist das schwächelnde China im Moment das größte Problem der Weltwirtschaft. Vor zwei Jahren haben viele behauptet, China käme super aus der Pandemie heraus. China hat aber bei der Impfstoffentwicklung ebenso wie bei seinen brutalen Lockdowns viel falsch gemacht.

Selmayr sieht keinen Rechtsruck in Europa. Sicherheitshalber demonstrieren die Omas gegen rechts trotzdem.
AFP/RONNY HARTMANN

STANDARD: In Europa gab es viel Kritik an den Maßnahmen.

Selmayr: In Europa haben wir die Pandemie insgesamt gut bewältigt. Klar, man muss Schwächen analysieren, aber wir sollten uns auch unserer Stärken bewusst sein, wie der sozialen Sicherheit, der Leistungsfähigkeit und der Kreativität der Wirtschaft und der Bevölkerung. Das alles hat sich gerade in der Pandemie bewährt.

STANDARD: Die EU-Kommission muss das wohl so sehen, sie ist auch Muntermacher der Gemeinschaft.

Selmayr: Wir haben die Aufgabe, Europa zusammenzuhalten. Kritisch, aber nicht verzagt. Dafür steht die EU-Kommission.

STANDARD: Wie wird sich Europa durch den Krieg in der Ukraine verändern?

Selmayr: Die Europäische Union wird sich in den nächsten Jahren fundamental verändern. Sie wird sich weiter nach Osten ausdehnen. Die EU-Erweiterung, auch um die Ukraine, wird stattfinden. Und welches Land könnte da besser eine zentrale Rolle spielen als Österreich? Da gibt es viel Potenzial. Österreich ist geografisch ideal positioniert, es muss sich nicht verstecken.

STANDARD: Was heißt das?

Selmayr: Man hat in den vergangenen Jahren gedacht, die Erweiterung sei eigentlich zu Ende. Nach dem Motto: "Wir sind 27, und das ist manchmal schwierig genug. Der Westbalkan gehört zwar zur EU, aber der Erweiterungsprozess ist komplex und wird Jahrzehnte dauern." Jetzt ist durch Russlands Angriffskrieg auf einmal ein fundamentales geopolitisches Moment hinzugekommen. Die Europäische Union erweitert sich immer dann, wenn es ein solches Moment gibt. Die Situation ist jetzt noch dramatischer als 1989.

STANDARD: Warum dramatischer als 1989? Damals ist der Eiserne Vorhang gefallen.

Selmayr: Damals haben sich ungeahnte Möglichkeiten aufgetan. Heute tun sich ungeahnte Bedrohungen auf, weil wir im Osten des Kontinents den Aggressor Russland haben.

STANDARD: Damals lief es friedlich ab.

Selmayr: Heute haben wir einen Krieg in der Nachbarschaft, der Europa betrifft und jeden Tag auf EU-Mitgliedsstaaten übergreifen kann. Es geht um die Friedens-, Sicherheits- und Wohlstandsordnung Europas. Wir müssen Putin stoppen und der Ukraine helfen, ihn zurückzuschlagen. Wenn das nicht gelingt, wäre das Leben, das wir kennen und schätzen, vorbei. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs 1989 war eine großartige Motivation, sie hat die Union gezwungen, das Versprechen vom geeinten Kontinent einzulösen.

"1989 haben sich ungeahnte Möglichkeiten aufgetan, heute tun sich ungeahnte Bedrohungen auf." 
– Martin Selmayr

STANDARD: Wie ist es heute?

Selmayr: Heute ist der Druck viel größer. Wenn wir uns jetzt nicht zusammenraufen, wenn wir die Erweiterung der Union inklusive ihrer sicherheitspolitischen Dimension jetzt nicht angehen, dann kann uns unser europäisches Lebensmodell von einem Aggressor wie Putin rasch genommen werden. Das Bewusstsein, dass wir zusammenhalten müssen, wächst. Hätte man vor zwei Jahren gesagt, die EU-Kommission wird den Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine vorschlagen und sechs Monate später werden die Mitgliedsstaaten das einstimmig beschließen, wäre man für verrückt gehalten worden. Jetzt ist das geopolitischer Hausverstand.

STANDARD: Wenn ich vor zwei Jahren einen Leitartikel geschrieben hätte, dass Deutschland kräftig aufrüsten und die militärische Führung in Europa übernehmen soll, hätten manche gesagt, ich sei übergeschnappt.

Selmayr: Das zeigt, dass die Zeitenwende nicht einfach nur ein Begriff ist. Sie bedeutet viel mehr, als wir alle bisher wahrnehmen. Am Erweiterungsthema wird das sichtbar. Wir wollen alle Frieden. Eines Tages wird der Krieg in der Ukraine enden. Und wir wollen eine Wiederherstellung der Integrität des Landes. Aber auch dann wird es eine Grenze zwischen der Ukraine und Russland geben. Wenn wir also eine Sicherheitsarchitektur haben wollen, muss klar sein, dass diese Grenze nicht mehr verschoben werden darf. Das geht nur über die EU und die Nato.

STANDARD: Wer garantiert die Sicherheitsarchitektur?

Selmayr: Wir haben das hier in Alpbach diskutiert. Die Sicherheitsarchitektur Europas wird nicht durch eine nicht existierende europäische Armee gestützt werden. Die europäische Armee ist die Nato. Alle, die dazu bisher legitim andere Überlegungen hatten, wurden von der Wirklichkeit überholt. Realpolitisch wird Europa nicht wegen der vier Staaten, die nicht in der Nato sind, eine neue Militärstruktur schaffen.

STANDARD: Das ist spannend, vor wenigen Jahren war eine EU-Armee noch ein Ziel.

Selmayr: Man redete über eine europäische Säule in der Nato. Das lag daran, dass wichtige Staaten wie Schweden oder Finnland nicht dabei waren. Wir haben aber keine Zeit mehr, um eine eigene europäische Struktur aufzubauen. In Österreich tut man manchmal so, als ob die Nato eine fremde Organisation wäre. Für die meisten Staaten der EU ist das aber nicht so, das ist ihre Organisation, sie sind mitbestimmende Mitglieder.

Martin Selmayr beim Forum Alpbach im Gespräch mit Stipendiaten.
EFA/Philipp HUber

STANDARD: Der Nato-Gipfel in Vilnius im Juli hat das auch deutlich gemacht. Österreich, Irland, Malta, Zypern, auch die Schweiz, waren als Partner für den Frieden nicht einmal eingeladen.

Selmayr: Österreich ist Gott sei Dank in der Partnerschaft für den Frieden dabei. Es wird von der Nato mitgeschützt. Die Neutralität wird von allen respektiert. Sie ist auch kein Problem für den Rest des Kontinents.

STANDARD: Kann man sagen, dass der Krieg in der Ukraine so etwas wie ein Turbo für die europäische Entwicklung ist?

Selmayr: Das zeigt sich jeden Tag. Am 24. Februar 2022 hatten die meisten Staaten in Europa Munition, die gerade einmal für einen Tag zum Verteidigen gereicht hätte. Heute kaufen wir als Europäische Union gemeinsam Munition ein für die Mitgliedsstaaten und für die Ukraine. Das Programm heißt ASAP, "as soon as possible", so schnell wie möglich. 27 Staaten haben in wenigen Wochen ein Programm zusammenzugestellt, auf das sie sich in Friedenszeiten in Jahren nicht geeinigt hätten.

STANDARD: Das klingt danach, dass es angemessen wäre, sich mit Voraussagen auf Jahre hinaus zurückzuhalten. Die Dinge ändern sich schnell.

Selmayr: Das Wichtigste in der europäischen Politik ist, sich auf Unvorbereitetes einzustellen. Die Drähte zwischen den Hauptstädten und Brüssel sind sehr gut. Die EU-Außenminister sind ständig in Kontakt, es gibt regelmäßig Gipfeltreffen. Die Krisen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass man sich laufend sehr eng abstimmt. Früher haben Entscheidungen viel länger gedauert.

STANDARD: Wir stehen kurz vor Europawahlen, in neun Monaten wird das Europaparlament neu konstituiert. Was erwarten Sie: Gewinne für radikale Parteien, einen starken Rechtsruck?

Selmayr: Es gab schon bei der Europawahl 2019 eine hohe Beteiligung, die einige überrascht hat. Auch jetzt herrscht meiner Ansicht nach ein starkes Bewusstsein dafür, dass das nicht irgendeine unwichtige Wahl ist. Ich sehe nicht den Ruck zu den radikalen Parteien in den Umfragen. Es gibt eine stabile demokratische Mehrheit in der Mitte des Parlaments zwischen Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und hoffentlich auch den Grünen. Wenn das so bleibt, können wir den Kurs der vergangenen Jahre fortsetzen und weiter beschleunigen. Es ist in Europa nicht so wie in den USA, dass plötzlich ein Trump kommt und alles rückabgewickelt wird. Das ist der Vorteil unseres dezentralen Systems und der Gewaltenteilung in Europa.

STANDARD: Sie sind der Vertreter der EU-Kommission in Österreich. Da ist die Stimmung in Bezug auf die EU gerade nicht sehr gut. Oder in Deutschland, das war schon einmal besser. Warum ist das so, warum gibt es diesen Reflex des Rückzugs auf das Eigene, auf das Nationale?

Selmayr: Das Phänomen, das Sie für Österreich beschreiben, ist nicht auf die Europapolitik begrenzt, sondern zeigt sich in allen Politikbereichen. Dabei ist die österreichische Regierung eigentlich außerordentlich erfolgreich. Sie hat im Bereich Klimaschutz mehr zustande gebracht als viele andere Regierungen in Europa. Sie hat mit der Abschaffung der kalten Progression die modernste Steuerreform gemacht – Nachbarstaaten versuchen das seit Jahren. Auch im Bereich Digitalisierung und bei der Pandemiebekämpfung war die österreichische Regierung vielen Nachbarn weit voraus.

STANDARD: Wird zu wenig aufgeklärt?

Selmayr: Über die Errungenschaften wird viel zu wenig geredet. Doch Führungskraft besteht in Krisen gerade darin, darauf hinzuweisen, wie man gegensteuert. Vielleicht ist die Regierung da zu bescheiden, sie hat bemerkenswerte Erfolge aufzuweisen.

STANDARD: Warum gelingt es nicht?

Selmayr: Das liegt vielleicht auch an unserer schnelllebigen, heute oft von sozialen Medien noch beschleunigten Medienlandschaft. Viele suchen da lieber nach der fetten Schlagzeile, die lässt sich eben leichter im Negativen darstellen. Viel aufwendiger ist es hingegen, genau zu erklären, was alles funktioniert. Niemand wird sagen, dass alles perfekt ist. Aber immer so zu tun, als wäre alles katastrophal, trägt nicht dazu bei, die Menschen zu überzeugen und für Zukunftsprojekte zu gewinnen.

STANDARD: Wie überzeugt man?

Selmayr: Die Frage ist: Wie reagiere ich auf Populismus? Dazu hat mein früherer Chef, der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, gesagt: Die Politiker, die immer den Populisten hinterherlaufen, werden vom Wähler immer nur von hinten gesehen. Ein wichtiger Satz. Man muss eigene Konzepte entwickeln, mutig vorangehen, wirkliche Probleme erkennen und sie entschlossen anpacken.

STANDARD: Und Sie meinen, die Bilanz der österreichischen Regierung ist gut?

Selmayr: Wir vergleichen als Kommission die 27 Mitgliedsstaaten ständig. Die bisherige Bilanz der österreichischen Regierung kann sich da durchaus sehen lassen. Es gibt natürlich ein paar Punkte, die jetzt erledigt werden müssen, Stichwort Klimaschutzgesetz und Schengen-Erweiterung. Aber alles zusammengenommen – die Förderung der Erneuerbaren, die Steuerreform, die beispielhaft großzügigen Maßnahmen zur Abfederung der Inflation – ist es eine Bilanz, von der viele andere in der Welt nur träumen können.

Selmayr bei der EU-Gipfeltour am Wasser.
Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich/APA/Franz Neumayr

STANDARD: Wird in Österreich zu wenig über Sacharbeit geredet, zu viel geraunzt?

Selmayr: Das Granteln gehört ein wenig zum Volkssport dazu. Nach fünf Minuten Volkssport sollte man aber schon auch einmal sagen, was in Österreich und in Europa alles vorangeht.

STANDARD: Sie gehen viel unter die Leute, machen mit dem Fahrrad Österreichtouren. Wie nehmen Sie die Stimmung da an der Basis wahr?

Selmayr: Die Menschen haben natürlich Sorgen. Wenn man bei einem Bürgerforum oder am Stammtisch sitzt, wird das ventiliert. Geht man darauf ein und bietet konkrete Lösungen an, dann ist das meist befriedigend für beide Seiten. Menschen, die nach Antworten suchen, muss man Antworten geben. Wir müssen uns auf die Menschen einlassen, viel mehr erklären. Wir dürfen das Feld nicht den Angstmachern und Populisten überlassen.

STANDARD: Beschäftigen sich die Parteien zu wenig mit Europapolitik?

Selmayr: Das ist kein Wiener Phänomen. Österreich macht eine genauso starke und kritische Europapolitik wie die meisten anderen auch. Österreich ist auch beileibe kein kleines, sondern ein mittelgroßes Land, es liegt genau in der Mitte der Union. Es gibt einige Themen, bei denen aus Österreich ganz besonders starke Unterstützung kommt, wie etwa bei der EU-Erweiterung Richtung Westbalkan.

STANDARD: Beim Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien ist das Gegenteil der Fall.

Selmayr: Bei einigen Themen gibt es Brüche in der Argumentation, das Schengen-Veto ist ein Beispiel. Außenminister Alexander Schallenberg hat in Alpbach etwas sehr Wichtiges zur Erweiterung gesagt, nämlich dass wir dabei politischer denken müssen. Wir dürfen nicht bürokratisch sein, sondern müssen die EU-Erweiterung, aber auch die Schengen-Erweiterung als historische Chance sehen.

STANDARD: Wie bei Griechenland 1981 oder Spanien und Portugal 1986, die davor Diktaturen waren?

Selmayr: Genau. Die waren damals sicher noch nicht auf dem höchsten Stand in Sachen Demokratie und Korruptionsbekämpfung. Aber man hat ihnen einen Vertrauensvorschuss gegeben. Dafür hat Außenminister Schallenberg nun im Hinblick auf den Westbalkan geworben. Wenn wir die Erweiterung angehen wollen, müssen wir für Vertrauen im Inneren des Hauses, also zwischen den 27 Mitgliedsstaaten, sorgen. Und dafür, so möchte ich ergänzen, sollte das Veto Österreichs gegen den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien jetzt schrittweise überwunden werden.

Selmayr (rechts) radelt auch gern durch Österreich.
Vertretung der EU-Kommission in

STANDARD: Hat die Regierung nicht trotzdem einen Punkt, wenn sie auf den Druck der Migration hinweist und darauf, wie viel Österreich bei der Migration geleistet hat?

Selmayr: Jeder hat immer ein bisschen recht. Österreich ist ein Land, das bezüglich Transitmigration mehr belastet ist als andere. Der Großteil dieser Migranten kommt allerdings über Ungarn, nicht über Rumänien und Bulgarien, weil Ungarn europäisches Recht verletzt. Deshalb würde ich mir wünschen, dass Österreich die Kommission in ihren Verfahren gegen Ungarn unterstützt. Wenn man die Grenzen kontrolliert, wäre das gegenüber Ungarn jedenfalls weit berechtigter als gegenüber Slowenien. Schon gar nicht sollte man Rumänien und Bulgarien für etwas bestrafen, für das Ungarn verantwortlich ist. Wir haben den Hilferuf aus Österreich wegen einer höheren Belastung bezüglich Migration sehr wohl verstanden. Aber ich hoffe auch, dass Österreich verstanden hat, dass das Hauptproblem die mangelhafte Beachtung des EU-Asyl- und Flüchtlingsrechts in Ungarn ist.

STANDARD: Wie wird in Brüssel die Nähe der Regierung zu Viktor Orbán oder Serbiens Präsident Aleksandar Vučić wahrgenommen, die wenig vorbildhaft sind bei Demokratie und Rechtsstaat?

Selmayr: Zunächst einmal ist es gut, wenn ein Land in der Region als Gesprächspartner und Vermittler zur Verfügung steht. Verbrüderungsszenen mit Orbán und Vučić würden wir skeptisch sehen, es braucht ernsthafte Gespräche. So wie die Europäische Kommission Präsident Vučić klar gesagt hat, dass die Einhaltung der europäischen Visapolitik eine Voraussetzung für eine EU-Mitgliedschaft ist. Die freie Visavergabe an Tunesien und Indien war eine unzulässige Instrumentalisierung der Migration.

STANDARD: Da hat Österreich Vorarbeit geleistet, Druck gemacht.

Selmayr: Richtig, da haben wir gut zusammengearbeitet, Österreich hat uns in bilateralen Gesprächen stark unterstützt. Man muss mit allen reden, man muss aber auch eine klare Sprache sprechen. Das hat Bundeskanzler Karl Nehammer bei einem Besuch Orbáns in Wien zuletzt auch gemacht. Bei Ungarn ist ein ernster Ton gefragt, es gibt bereits mehrere Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof.

STANDARD: Wie sehen Sie generell die Rolle Österreichs in der Union? Vor dem EU-Beitritt 1995 galt unter Außenminister Alois Mock noch die Formel, dass Österreich auf maximale Integration setzen sollte, als "siebtes Gründungsland", wie der legendäre Botschafter Manfred Scheich damals sagte, so wie die Beneluxländer vorn dabei. Hat das nachgelassen? Verpasst das Land in Brüssel Chancen?

Selmayr: Es gibt da keine Singularität Österreichs. Überall in Europa ist die Politik komplexer geworden. Politik wird nicht mehr so gemacht wie in den Gründungszeiten. Wir müssen die Union täglich leben, da kommt es auch zu Streit und Konflikt. Aber Österreich hat eine einzigartige geografische Lage im Herzen Europas. (Thomas Mayer, 3.9.2023)