"Aus aktuellem Anlass" – so war am Sonntag der Hinweis auf eine Pressekonferenz des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) betitelt. Jeder wusste natürlich, was der "Anlass" war: Die Flugblatt-Affäre von Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler, Vize-Regierungschef in Bayern und dort auch Wirtschaftsminister. Er soll vor 35 Jahren als Schüler am Gymnasium ein Pamphlet im NS-Jargon verfasst haben.

Markus Söder neben Hubert Aiwanger.
Markus Söder (CSU), Ministerpräsident von Bayern wird seinen Vize Hubert Aiwanger (Freie Wähler) genau im Auge behalten.
APA/epa-pool/Lukas Barth-Tuttas

Seit Tagen erschüttert die Affäre Bayern, wo am 8. Oktober ein neuer Landtag gewählt wird. Publik gemacht hatte die Vorwürfe die "Süddeutsche Zeitung". Doch auf diese alleine wollte sich Söder nicht verlassen, zumal Aiwangers Bruder Helmut alle Schuld auf sich nahm: Er habe das Flugblatt verfasst. In der Schultasche des heutigen Freie Wähler-Chefs seien nur deshalb Exemplare gefunden worden, weil dieser "deeskalieren" habe wollen.

Antworten auf 25 Fragen

Also hatte sich Söder zwei Mal mit Aiwanger getroffen, ein Sonder-Koalitionsausschuss wurde einberufen und Aiwanger erhielt 25 Fragen zur Beantwortung. Diese ging Söder am Samstag durch, am Sonntag verkündete er, dass Aiwanger nicht entlassen werde. Doch Söder betonte auch: "Ich habe es mir dabei nicht leicht gemacht." Es sei ein "Abwägungsprozess" gewesen.

Einerseits sei da dieses "ekelige, menschenverachtende Flugblatt", in dem von einem "Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz" die Rede ist. Andererseits, so Söder, sei Aiwangers Krisenkommunikation zwar "nicht sehr glücklich gewesen", doch habe er sich "spät, nicht zu spät" entschuldigt und distanziert. Zudem sei die Angelegenheit vor 35 Jahren passiert, seither nie wieder etwas Vergleichbares ruchbar geworden. Und es gebe bis heute keinen Beweis, dass Aiwanger die Hetzschrift tatsächlich selbst verfasst habe.

Pressekonferenz (03.09.23)
Ministerpräsident Dr. Markus Söder informiert aus aktuellem Anlass in einer Pressekonferenz.
Bayern

Nicht gänzlich zufrieden ist Söder mit den Antworten Aiwangers auf die 25 Fragen. Da fände sich "viel Bekanntes, wenig Neues", an manches habe sich Aiwanger nicht mehr erinnern können. Aber Aiwanger habe ihm versichert, die Angelegenheit habe damals "wichtige gedankliche Prozesse angestoßen". Und Söder sagte bei seinem Pressestatement über seinen Vize auch: "Man merkt, wie ihn die Sache belastet."

Unterm Strich also wäre eine Entlassung Aiwangers nicht verhältnismäßig gewesen. Angesprochen hat Söder das natürlich nicht, aber es wird eine Rolle gespielt haben: Nach einem Rauswurf hätte sich Aiwanger in der heißen Phase des Wahlkampfes als "Märtyrer" inszenieren können.

Bei einigen bleiben Restzweifel

"Meine Entscheidung wird nicht allen gefallen, bei einigen bleiben Restzweifel", sagte Söder auch noch. Und dennoch: "Die Sache ist abgeschlossen." Es werde daher "kein Schwarz-Grün" geben, auch "alle anderen Angebote der Opposition laufen ins Leere". Zunächst war in München ja spekuliert worden, Söder könne sich von den Freien Wählern, mit denen er die sogenannte "Bayern-Koalition" bildet, abwenden. Doch das ist nicht der Fall, die Grünen bleiben auch nach der Wahl politische Gegner und Gegnerinnen – so wie schon bisher.

Bei der Beantwortung der Fragen liest man in der Tat vieles, was Aiwanger schon in den Tagen zuvor erklärt hat. So antwortet er etwa auf die Frage, wie viele Exemplare des Flugblattes in seiner Tasche gefunden worden seien: "Eines oder wenige." Er gibt an, sich nicht erinnern zu können, wann er erfahren habe, dass der Verfasser sein Bruder war. Gefragt wurde Aiwanger auch, was er empfunden habe, als er das Pamphlet zum ersten Mal gesehen habe. Seine Antwort: "Ich war erschrocken." Zudem sei die ganze Angelegenheit damals "ein einschneidendes Erlebnis" gewesen.

Zum Schluss betont Aiwanger noch: "Ich habe als Jugendlicher auch Fehler gemacht, die mir heute leidtun. Ich bereue, wenn ich durch mein Verhalten in der Jugendzeit Gefühle verletzt habe. Fehler aus der Jugendzeit dürfen einem Menschen allerdings nicht für alle Ewigkeit angelastet werden. Jedem Menschen muss auch ein Entwicklungs- und Reifeprozess zugestanden werden."

Jubel im Bierzelt

Aiwanger hatte am Sonntag auch einen Auftritt im Bierzelt. In Keferloh wurde er, wie zuvor schon in Aschau, mit Jubel empfangen. Gerüchten, er habe auch "Mein Kampf" in der Schultasche gehabt und den Hitler-Gruß gezeigt, hat Aiwanger widersprochen. Auf der Nachrichtenplattform X, vormals Twitter, zeigte sich Aiwanger nach der Pressekonferenz in seiner Unschuld bestätigt. "Es gibt keinen Grund, mich zu entlassen, die Kampagne gegen mich ist gescheitert", so Aiwanger.

SPD-Spitzenkandidat Florian von Brunn findet die Entscheidung Söders dennoch falsch und kritisiert: "Heute ist ein trauriger Tag für das Ansehen von Bayern in Deutschland und der Welt. Dass die CSU unter Markus Söder einen aktiven Rechtspopulisten und früher auch rechtsradikal tätigen Aktivisten als Stellvertreter in der Regierung akzeptiert, ist ein negativer Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland."

Söder hatte noch einen "ernst und gut gemeinten" Rat an Aiwanger: Er solle "Reue und Demut" zeigen. Denn: "Wer ernsthaft bereut, kann leichter auf Verzeihung hoffen." Aiwanger wird nun Gespräche mit jüdischen Gemeinden suchen. Einen ersten Austausch mit Josef Schuster, dem Vorsitzenden de Zentralrats der Juden in Deutschen, hat es bereits gegeben. (Birgit Baumann aus Berlin, red, 3.9.2023)