Ursula von der Leyen
Ursula von der Leyen, so hört man zwischen den Zeilen, ist noch nicht fertig als Chefin der EU-Kommission.
AFP/FREDERICK FLORIN

Firmiert der EU-Parlamentsbetrieb medial für gewöhnlich meist unter "ferner liefen", sind einmal im Jahr alle Augen auf Straßburg gerichtet. Konkret auf die Rede zur Lage der Union, wie das jährliche Grundsatzreferat der EU-Kommissionspräsidentin in Anspielung auf das US-amerikanische Vorbild etwas hochtrabend genannt wird. Am Mittwoch gehörte die Bühne womöglich zum letzten Mal Ursula von der Leyen. Jedenfalls in der aktuellen Amtsperiode. Umso größer war vorab die Neugierde in Straßburg, ob die deutsche Christdemokratin auch Andeutungen zu ihrer Zukunft bereithält. Dass Ursula von der Leyen, geboren und aufgewachsen in Brüssel, eine zweite Amtszeit an der Spitze der EU-Kommission anstrebt, gilt zwar als offenes Geheimnis, wie mehrere enge Vertraute von der Leyens dem STANDARD in den vergangenen Wochen auch bestätigten. Bloß: Wer sich konkrete Bekenntnisse erwartete, wurde enttäuscht.

Unbekannte Zukunftspläne

Zwischen den Zeilen enthielt ihre Rede aber doch zumindest deutliche Anzeichen dafür, dass von der Leyen ihre Arbeit längst nicht als abgeschlossen empfindet. Sie will Spuren hinterlassen, vielleicht mehr als ihre Vorgänger.

Tatsächlich muss sich von der Leyen, die anfangs noch als mittelmäßige Kandidatin abgestempelt wurde, aber vor allem mit mehr Problemen herumschlagen: Kaum war sie im Dezember 2019 im Amt, brach die Pandemie über Europa herein, es folgte eine tiefe Wirtschaftskrise, 2022 dann der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Energiekrise.

Multikrisen und Historisches

Tatsächlich vermochte ihre Kommission viele negative Folgen für den Binnenmarkt und die Gesellschaften in den Mitgliedsländern abwehren, meist, indem sie das Chaos der nationalstaatlichen Maßnahmen koordinierte. Vor allem aber schlug von der Leyen bei der Außen- und Militärpolitik ein neues Kapitel auf: Die Gemeinschaft stellte sich mit Vehemenz auf die Seite der Ukraine und legte sich für Rechtsstaat und internationale Ordnung ins Zeug – ohne Wenn und Aber.

Auch in ihrer Rede verwies von der Leyen auf die Herausforderungen der Zukunft in zahlreichen Feldern. Beim Thema Klimaneutralität und beim digitalen Umbau der Industrie etwa: 2019 bezeichnete sie den Green Deal als "Mann-auf-dem-Mond-Moment" – wie die Mondlandung für die USA soll der Green Deal für Europa zu einem gewaltigen Innovationsschub führen. Jedenfalls wenn es nach der EU-Kommission geht.

Vier Jahre später klangen ihre Worte nüchterner. "Wir haben die Klimaagenda zu einer wirtschaftlichen Agenda weiterentwickelt", formulierte sie es. Schließlich liegen in den Jahren dazwischen hunderte Gespräche mit Industrie, Wirtschaft und den Mitgliedsländern. Einfach dürften die wenigsten gewesen sein, schon gar nicht, wenn es um den Streit mit China über billige E-Autos geht.

"Bleiben auf Kurs"

Beim Green Deal, einem Herzstück ihrer bisherigen Amtszeit, bleibe man jedenfalls "auf Kurs", betonte von der Leyen – nicht zuletzt ein Fingerzeig in Richtung Grüne und Sozialdemokraten. Will sie weiter im Amt bleiben, ist die Deutsche auch auf diese angewiesen. Schließlich "bewirbt" man sich um den wichtigsten und mächtigsten Posten in der EU nicht einfach so, sondern wird von den Staaten nominiert und vom Parlament bestätigt.

Heraus kam bei von der Leyens Rede zur Lage der Union ein kunstvoll gewichtetes Konstrukt, um möglichst breite Akzeptanz im Parlament zu finden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Auch die Liberalen mussten schließlich mit Zuckerln versorgt werden. Beim Streitthema Migration sprach sich von der Leyen daher für eine gezielte Einwanderung von Fachkräften aus. Den eigenen Leuten, der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), gefällt der schärfere Migrationskurs, der im Juni beschlossen wurde, freilich besser.

Interne Debatten

Nur drei Kommissionschefs haben bisher zweite Amtszeiten bekommen: Walter Hallstein, Jacques Delors und zuletzt José Manuel Barroso, allesamt mächtige Männer. Dass die erste Frau im Amt ihre Absichten noch nicht kundgetan hat, liegt eben auch an den internen Debatten in der EVP. Ausgerechnet Landsmann Manfred Weber legt sich quer. SPD-Kanzler Olaf Scholz hingegen würde einer zweiten Amtszeit sofort zustimmen – so schnell bekommt Deutschland keine Kommissionschefin mehr.

So oder so: Europa muss jetzt eine neue Balance gegenüber Russland, China und dem Rest der Welt aufbauen. Das kommt der Deutschen jetzt zugute, "Lame Ducks" haben im Superwahljahr 2024 keinen Auftrag. (Manuela Honsig-Erlenburg, Thomas Mayer, 15.9.2023)