Der Begriff "Moral Hazard", zu deutsch "moralisches Risiko", erlebte eine Hochkonjunktur während der Subprime-Krise 2008. Der Begriff bezeichnet laut Internet-Lexikon eine Situation, in der sich "Wirtschaftssubjekte aufgrund ökonomischer Fehlanreize verantwortungslos oder leichtsinnig verhalten und damit ein Risiko auslösen oder verstärken.“ Am 15. September 2008 hatte der damalige US-Präsident die Investment-Bank Lehman Brothers pleite gehen lassen. Dem vorausgegangen war eine jahrelang von zahlreichen Wallstreet-Banken genährte Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt.

Ein Baukomplex in der Stadt Huaian, entwickelt vom Immobilienunternehmen Evergrande, das mittlerweile in einer tiefen Krise steckt.
Ein Baukomplex in der Stadt Huaian, entwickelt vom Immobilienunternehmen Evergrande, das mittlerweile in einer tiefen Krise steckt.
AFP/STR

Natürlich hätte man Lehman Brothers auch mit Steuergeldern retten können, so genannte "Bail Outs". Der Preis aber wäre ein "Moral Hazard" gewesen - ein im Kapitalismus verheerendes Signal an alle Akteure, sich in Zukunft noch riskanter zu verhalten. In der Folge der Insolvenz rutschte die Weltwirtschaft in eine ihrer größten Krisen überhaupt. Es war China, das dann ein gigantisches Konjunkturpaket auflegte: Rund 700 Milliarden US-Dollar investierte Peking damals in den Aufbau der eigenen Infrastruktur, baute Brücken, Straßen, Flughäfen - und auch ein paar Geisterstädte, dazu gleich mehr. Das Paket "rettete" damals die Weltwirtschaft. Die von China ausgehenden Konjunkturimpulse stimulierten das Wachstum weltweit.

Von den USA nach China

Und heute? Knapp 15 Jahre später nach der Lehman-Pleite ist die Angst groß, dass die nächste große Wirtschaftskrise ihren Anfang in China nimmt - und zwar wieder im Immobiliensektor. Selbst in Top-Lagen in Hangzhou, wo der Konzern Alibaba seinen Sitz hat, und in Shanghai, sind die Preise um 15 bis 20 Prozent eingebrochen. Und es ist kein Ende in Sicht. Reißt also China dieses Mal die Weltwirtschaft in den Abgrund?

Zunächst kurz zu der Frage, wie es dazu kommen konnte. In den vergangenen Jahren war im Westen eine Mega-Geschichte stets etwas unterbelichtet: Die der chinesischen Urbanisierung. Seit 1990 etwa sind innerhalb Chinas rund 500 Millionen Menschen von Bauern zu Stadtbewohnern geworden. Diese Menschen brauchten Wohnraum. Anders als in vielen anderen Schwellenländern sieht man Slums in China kaum - dafür schier unendliche Weiten an Betongebirgen. Mega-Konzerne wie Evergrande oder Country Garden bauten Wolkenkratzer um Wolkenkratzer. So entstanden nicht nur die Megametropolen an der Ostküste wie Shanghai, Shenzhen und Peking, sondern auch die sogenannten Tier2- und Tier3-Städte: Shijiazhuang, Fuzhou oder Nanning. In jeder dieser im Westen kaum bekannten Städte leben mindestens dreimal so viele Menschen wie in Wien - und war in Häusern, die allesamt in den vergangenen 20 Jahren gebaut wurden.

Betongebirge

Für die Konzerne, die zwar offiziell keine Staatsunternehmen sind, aber ohne Placet aus Peking kaum operieren können, war diese Urbanisierung ein Segen. Evergrande und Co bauten und bauten und wuchsen zu gigantischen Milliarden-Unternehmen heran. Und da die Nachfrage nie zu versiegen schein, sammelte man schneller Geld ein, als man baute und investierte dieses auch mal in Fußballklubs - so kaufte Evergrande 2010 den Fußballklub FC Guangzhou.

Im Spätsommer vor zwei Jahren entschied sich die Regierung, dem Treiben ein Ende zu setzen. Der Schuldenberg der Konzerne war zu einer Gefahr für die Konjunktur geworden. Die Konzerne wurden anhand von "drei roten Linien" dazu angehalten, ihre Verschuldung zu senken. In der Folge konnte Evergrande Teile seine Anleihen nicht mehr bedienen. Und seitdem schwelt die Immobilienkrise in China vor sich hin.

Von Boom in die Krise

Zum großen Crash aber ist es auch zwei Jahre später nicht gekommen. Evergrande befindet sich zwar in einem "halbtoten" Stadium, die Konjunktur lahmt, und die Verschuldung zahlreicher Unternehmen ist mit 160 Prozent der Wirtschaftsleistung nach wie vor zu hoch.

Bevor aber eine Kaskade der Zahlungsunfähigkeit die chinesische Wirtschaft erfasst, sollte man sich auf Maßnahmen Pekings gefasst machen. Das Geld dazu ist da: Die Führung in Peking sitzt zudem noch immer auf einem gigantischen Berg von US-Dollar-Devisen, um notfalls Turbulenzen auf dem Währungsmarkt abzufedern. Ein semi- oder staatskapitalistisches System ist auch weniger auf private Anreizmechanismen angewiesen. Die Frage eines Moral Hazards stellt sich damit auch in einem viel geringeren Maße als in den kapitalistischen USA. Zynisch gesagt: Auf das, was mit ihren Steuergeldern passiert, haben die chinesischen Bürger ohnehin keinen Einfluss.

China droht japanisches Szenario

Zudem hat die Führung in Peking nach der Asienkrise 1997-1998, die zahlreiche ostasiatische Staaten um Jahre in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zurückwarf, gelernt: Das chinesische Bankensystem ist weitgehend isoliert. Turbulenzen auf dem chinesischen Finanzmarkt haben anders als in den USA kaum globale Auswirkungen.

Worauf man sich allerdings gefasst machen sollte, ist ein japanisches Szenario. Nach einer Immobilienblase brach die damals zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt zwar nicht zusammen, geriet aber in eine Phase ohne Wachstumsimpulse, die bald zwei Jahrzehnte anhielt. Eine Art Stop-and-Go-Entschuldungsprozess in China wird Jahre in Anspruch nehmen. In diesem Zeitraum werden in China wie derzeit die Preise eher fallen, die Nachfrage nachlassen, Arbeitslosigkeit ein Problem sein. China wird zwar keine Weltwirtschaftskrise auslösen, aber globale Wachstumsimpulse wie zuletzt 2010 sind ebenso nicht zu erwarten. (Philipp Mattheis, 23.9.2023)