Münzwurf
Kopf oder Zahl? Die Wahrscheinlichkeit, dass im Fall dieser Zwei-Euro-Münze nach dem Wurf "Zahl" oben liegen wird, beträgt fast 51 Prozent.
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Der Münzwurf gilt als Inbegriff eines Zufallsereignisses. Er ist in Lehrbüchern über Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik ein allgegenwärtiges Beispiel und wurde bereits in der Römerzeit als Glücksspiel betrieben. Damals allerdings lautete der Spruch nicht Kopf oder Zahl, sondern "capita aut navia", also "Kopf oder Schiff". Mit Münzwürfen wurde auch Wichtiges entschieden: etwa welcher der Gebrüder Wright 1903 den ersten Flug unternehmen würde (nämlich Orville) oder wer 1959 den letzten Sitzplatz im Flugzeug für die Tournee des Rockstars Buddy Holly bekommen würde. (Das Flugzeug stürzte ab, niemand überlebte.)

Als Münzwürfe Spiele entschieden

Bei vielen Sportveranstaltungen ist der Münzwurf bis heute allgegenwärtig – etwa im Fußball, Tennis oder American Football. Im Normalfall ist es ziemlich egal, wer beginnt und wer auf welcher Seite spielt, zumal ohnehin gewechselt wird. Es gab aber vor Einführung des Elfmeterschießens Spiele, die mit einem Münzwurf entschieden wurden: 1965 etwa wurde der Sieger im Halbfinale der Europapokalsieger der Landesmeister durch einen Münzwurf bestimmt. Liverpool "gewann" damals gegen den 1. FC Köln. 1968 wiederholte sich der Münzwurf als Entscheidung beim Halbfinalspiel der Fußball-Europameisterschaft zwischen Italien und der Sowjetunion (Sieger: Italien).

Vor den Elfmeterschießen, die heute unentschiedene Spiele entscheiden, gibt es ebenfalls Münzwürfe, die im Übrigen ein klein wenig vorentscheidend sind. So zeigte eine Studie von Max-Planck-Forschenden 2021, dass etwa 60 Prozent der Teams, deren Kapitäne beim Münzwurf gewannen, die nachfolgenden Elfmeterschießen zwischen 2003 und 2017 für sich entscheiden konnten.

Aber wie ist das mit den Münzwürfen selbst? Sind die Wahrscheinlichkeiten tatsächlich exakt 50 zu 50?

"Same-side Bias"

Anders als der deutsche Wikipedia-Eintrag behauptet, dürfte es kleine, aber nicht völlig irrelevante Abweichungen geben. Das behauptete der renommierte Stanford-Mathematiker Persi Diaconis gemeinsam mit seiner Statistik-Kollegin Susan Holmes und dem Mathematiker Richard Montgomery (UC in Santa Cruz) 2007 in einer ausführlichen Analyse der Flug- und Drehdynamik von Münzen, die mit einem Daumen in die Luft geschleudert werden. Die Mathematik dahinter ist ziemlich komplex, geht es doch darum, insgesamt zwölf Dimensionen zu berücksichtigen, wobei der Luftwiderstand noch gar nicht mitberechnet wurde, wie Diaconis, der eigentlich Magier werden wollte, in diesem wie immer sehenswerten Video des wunderbaren Mathe-Videoblogs "Numberphile" erläutert:

How random is a coin toss? – Numberphile
Zufälle, Münzen und Zahnseide: Persi Diaconis erklärt die überraschenden Ergebnisse seiner Berechnungen.
Numberphile

Die Kernaussage der Arbeit: Jene Seite, die vor dem Münzwurf oben liegt, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, auch nach dem Auffangen oben zu liegen ("Same-side Bias"). Der Hauptgrund dafür liegt in der sogenannten Präzession. Die geworfenen Münzen rotieren nicht nur entlang der Drehachse, sondern meist auch seitlich. Das führt dazu, dass die Oberseite auch während des Flugs etwas öfter oben liegt. Magier oder Trickbetrüger schaffen es im Extremfall sogar, Münzen beim Wurf nur seitlich "wackeln" zu lassen, ohne dass sie um die eigene Achse rotieren – ähnlich einer Pizzateigscheibe, die in die Luft geworfen wird.

In dem Fall bleibt die obere Seite der Münze während der gesamten "Luftfahrt" oben. Das Trio um Diaconis, der auch als der weltweit führende Experte für das Mischen von Spielkarten gilt, ermittelte dank Extremzeitlupenaufnahmen und komplexen Berechnungen, dass die Wahrscheinlichkeit rund 51 Prozent beträgt, dass die obere Seite auch am Ende des Wurfs oben liegt. Um diese Hypothese statistisch halbwegs gut abzusichern, seien aber rund 250.000 Würfe nötig, behauptet Diaconis in einem zweiten "Numberphile"-Video zum Thema:

Coin Flipping (extra footage)
Zusätzliches Video zur Dynamik des Münzwurfs
Numberphile2

350.757 Münzwürfe in zwölf Stunden

Diese Arbeit, die sich Diaconis und Co nicht antun wollten, wurde nun rund 15 Jahre später von einem Team um František Bartoš nachgeholt. Der Mathematik-Doktorand an der Universität Amsterdam rekrutierte insgesamt 48 Personen, die am 4. Dezember 2022 in zwölf Stunden in Amsterdam 350.757 Würfe mit Münzen aus 46 verschiedenen Währungen durchführten und protokollierten. (Auch davon gibt es ein Video, das aber deutlich langatmiger ist als die Clips mit Diaconis.)

Die jungen Forschenden konnten bestätigen, dass die Wahrscheinlichkeit für die gleiche Seite wirklich höher war und insgesamt 50,8 Prozent betrug, wie sie in einem Preprint – also einem noch nicht von Fachleuten begutachteten Artikel – am Server Arxiv berichten. Bei näherer Analyse der Daten stellten sie zudem fest, dass die Ergebnisse der Münzwürfe von Mensch zu Mensch hinsichtlich des Same-side-Bias recht unterschiedlich ausfallen. Einige der 48 Werferinnen und Werfer zeigten eine starke Neigung zur gleichen Seite und andere überhaupt keine, wie Erstautor Bartoš auch via X mitteilte:

Der Unterschied von 50,8 zu 49,2 Prozent klingt nach wenig, aber im Laufe der Zeit kann sich dieser Unterschied schon aufsummieren. Wenn man jemanden überzeugen könnte, 1.000 Mal hintereinander auf Münzwürfe einen Euro zu wetten, und sich immer für die vor dem Wurf oben liegende Seite entscheidet, würde der Unterschied am Ende durchschnittlich 19 Euro ausmachen, so Bartoš. Das sei immerhin mehr als der Casinovorteil bei Blackjack mit sechs Karten gegen einen Spieler mit optimaler Strategie.

Gibt es eine Möglichkeit, den Same-side-Bias – etwa als Fußballschiedsrichter – zu vermeiden? Ja, natürlich: indem man vor dem Münzwurf einfach verbirgt, welche Seite obenauf liegt. (Klaus Taschwer, 20.10.2023)