Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte, Getreide aus der Vogelperspektive
Lektine findet man praktisch überall: in Getreide, Gemüse, Obst, Samen, Nüssen und sogar Milchprodukten. Warum diese gesunden Nahrungsmittel auf einmal Allergien oder Krebs auslösen sollen, ist nicht nachvollziehbar.
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Gemüse, so ist das allgemein etablierte Wissen, ist gesund. Egal in welcher Form, ob roh, gekocht, ganz oder zerkleinert, es steckt voller Vitamine, Mineralien und sekundären Pflanzenstoffen und tut uns uneingeschränkt gut. Bis auf einmal die Lektine ins Licht der interessierten Öffentlichkeit gelangten. Die hat vor einigen Jahren noch niemand gekannt, das änderte sich im Jahr 2018 aber schlagartig, mit dem Buch "Böses Gemüse" des US-amerikanischen Herzchirurgen Steven R. Gundry. "Wie gesunde Nahrungsmittel uns krank machen. Lektine – die versteckte Gefahr im Essen", ist auf dem Cover zu lesen. Und das sorgte für einige Aufregung.

"Kommt der Tod aus der Salatschüssel?" titelte daraufhin ein Boulevardmedium. Denn Tomaten sind als Nachtschattengewächs voll mit diesen speziellen Proteinen. Die finden sich außerdem in Getreide, vor allem Weizen, Hülsenfrüchten wie Linsen oder Bohnen, Kartoffeln, Melanzani, Paprika, Chilis, Äpfeln, Beeren, außerdem in Cashews, Erdnüssen, Samen und in manchen Milchprodukten.

Lektine sollen, behauptet Buchautor Gundry, Allergien, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Asthma, Autoimmunkrankheiten, Diabetes und Übergewicht auslösen. Durch Pflanzenzüchtungen und Pflanzenschutzmittel würden wir außerdem heute so viele Lektine aufnehmen wie keine Generation vor uns, das soll auch für den enormen Anstieg von Krebs, Demenz und Parkinson verantwortlich sein. Man weiß also nicht genau, was man tun soll, falls Lektine tatsächlich so gefährlich sind, wie der Herzchirurg behauptet. Es scheinen einem nur zwei Möglichkeiten zu bleiben: langsam dahinsiechen oder verhungern.

Wie Bremsen im Auto

Was sind Lektine nun genau? Es handelt sich dabei um komplexe Proteine oder Glykoproteine, die an spezifische Kohlenhydratstrukturen binden. Sie können verschiedene Stoffwechselvorgänge beeinflussen wie etwa die Zellteilung, oder auch die Arbeit des Immunsystems. Man findet sie wirklich überall, Tiere, Pflanzen, Mikroorganismen können sie bilden, und sie finden sich auch im menschlichen Mikrobiom, der Bakterienvielfalt, die in unserem Inneren lebt. Der US-amerikanische Gastroenterologe und Mikrobiomforscher Will Bulsiewicz bezeichnet sie auch als "Antinährstoffe", die es dem Körper erschweren, andere Nährstoffe richtig aufzuspalten. Das erklärt er im Zoe-Podcast Science & Nutrition. Der Podcast, den es nur auf Englisch gibt, entstand aus dem Gesundheitsforschungsprojekt Zoe Health Study des britischen Ernährungsmediziners Tim Spector.

Hier hat man also die Erklärung, warum Lektine ein Problem sind, ist man versucht zu denken, weil es Antinährstoffe sind. Doch Bulsiewicz gibt gleich wieder Entwarnung: "Durch das Kochen werden die allermeisten Lektine im Essen zerstört. Und wenn dennoch welche bleiben, dann in so kleinen Mengen, dass sie dem Körper, statt ihn daran zu hindern, Nährstoffe aufzunehmen, dabei helfen, seine Nährstoffbalance zu bewahren." Sie würden wirken wie Bremsen in einem Auto: "Man sollte nicht nur die ganze Zeit auf das Gaspedal drücken, zwischendurch muss man auch einmal langsamer werden." Das bedeutet, dass Lektine negative Auswirkungen auf den Körper haben, ist wirklich höchst unwahrscheinlich, wenn man sie in der ganz normalen Ernährung konsumiert – was die Menschheit ja auch bereits seit tausenden Jahren tut.

Keine rohen Bohnen

Was steckt nun hinter den skandalösen Offenbarungen? "Isst man Lektine in riesigen Mengen, und ich spreche hier tatsächlich von riesigen Mengen, können sie eine Lebensmittelvergiftung auslösen", sagt Bulsiewicz. Davon gebe es auch Berichte. 1988 mussten sich tatsächlich mehrere Mitarbeitende in einem britischen Spital übergeben bzw. bekamen starken Durchfall, nachdem sie rote Kidneybohnen gegessen hatten. Der Grund dafür: Die Bohnen waren nicht ausreichend gekocht.

Ähnliches passierte 2006 in Japan mit weißen Kidneybohnen: Ein Fernsehkanal präsentierte eine neue Diät, für die man rohe, gemahlene weiße Kindneybohnen aß – mit dem Ergebnis, dass Tausende an Lebensmittelvergiftung erkrankten und den Sender deswegen klagten. Den "White Kidney Bean Incident" kann man hier nachlesen. Doch in beiden Fällen wurde niemand ernsthaft krank, alle erholten sich in den nächsten Tagen und hatten keine Langzeitfolgen.

Und beide Fälle zeigen: Das Problem waren die rohen Bohnen. Bulsiewicz betont: "Sobald man die Bohnen kocht, sind sie nicht nur ungefährlich, sondern tatsächlich sehr gesund. Und das gleiche gilt für Nachtschattengewächse, die man nicht roh essen kann, wie Kartoffeln oder Melanzani."

Breite Studienlage

Tatsächlich gibt es sogar Studien, die auch Buchautor Gundry zitiert, die die Gefährlichkeit der Lektine belegen sollen. Doch Gastroenterologe Bulsiewicz betont: "Mit all diesen Studien gibt es ein Problem. Sie wurden an Mäusen und Ratten durchgeführt, deren Verdauungssystem doch sehr anders ist als jenes von uns Menschen. Und man fütterte sie mit absurden Mengen an Lektinen."

Demgegenüber stehen deutlich mehr Studien, die die positiven Wirkungen von Lektinen hervorheben. So können sie etwa Tumorwachstum bremsen, wie diese und diese Studie zeigt. Diese Metaanalyse zeigt, dass eine Ernährung mit vielen Hülsenfrüchten, die ja besonders viele Lektine enthalten, das Darmkrebsrisiko reduziert. Sie helfen außerdem, den Blutdruck zu senken und – bei Übergewicht – abzunehmen. Diese Studie zeigt die entzündungshemmende Wirkung von Lektinen in Hülsenfrüchten und wie sie helfen, den Stoffwechsel von übergewichtigen Menschen zu regulieren.

Angesichts dieser Erkenntnisse und auch basierend auf ganz offensichtlichen Gründen warnt Bulsiewicz davor, Lektine wegzulassen: "So eine Ernährungsform schließt unglaublich viele Lebensmittel aus. Das würde es extrem schwierig machen, dass man langfristig genug Kalorien und Nährstoffe aufnimmt." Gleichzeitig gibt es natürlich Menschen, die angeben, sich deutlich besser zu fühlen, seit sie Lektine weglassen. Doch auch dafür gibt es mehrere Gründe, weiß der Experte: "Es könnte ein Placebo-Effekt sein. Oder es könnte sein, dass man durch diese restriktive Ernährung etwas anderes weglässt, das womöglich Probleme erzeugt. Essen besteht ja nicht nur aus Lektinen, da sind unendlich viele andere Bestandteile drin, die alle einen Einfluss auf unseren Körper haben."

Was bleibt am Ende von der Lektin-Panik – die immer noch so manche Menschen umtreibt? Man darf Hülsenfrüchte und einige Nachtschattengewächse nicht roh oder zu wenig gekocht essen. Hält man sich an diese recht simple Regel, sind diese Proteine nicht nur nicht schädlich, sondern sogar ziemlich gesund. (Pia Kruckenhauser, 5.12.2023)