Jean Asselborn war der längstdienende Außenminister in der EU. 19 Jahre lang wirkte der luxemburgische Sozialdemokrat vor allem als Ideengeber und scharfzüngiger Kommentator in der EU. Kürzlich war er bei dem von Altbundespräsident Heinz Fischer geleiteten und nach dem früheren UN-Generalsekretär benannten Ban Ki-moon Centre in Wien zu Gast. Mit dem STANDARD sprach Asselborn über sein Lebensthema EU.

Jean Asselborn im Ban Ki-moon Centre in Wien
Jean Asselborn im Ban Ki-moon Centre in Wien: "Wir müssen stur bleiben bei der Rechtsstaatlichkeit."
Ban Ki-moon Centre

STANDARD: Herr Asselborn, wie geht es der EU? Wir haben Mitglieder, die eigentlich keine mehr sein dürften, weil sie den rechtsstaatlichen Kriterien nicht mehr entsprechen, wie Ungarn. Und wir haben Länder, die die Ukraine-Politik der EU blockieren, wie Ungarn und neuerdings die Slowakei.

Asselborn: Ich hatte schon 2016 gesagt, dass diese Einstellungen von Orbán mit den Werten der EU nicht vereinbar sind. Das ist ja nicht besser, sondern schlimmer geworden. Oder dass er nach China geht und dort Putin die Hand gibt. Das sind Botschaften, die nicht zu der Europäischen Union passen. Wir haben fast zehn Länder, die an unsere Tür klopfen. Daher dürfen wir unsere Werte nicht verwässern.

STANDARD: Was sollen wir konkret tun? Viktor Orbán versucht die EU beim Thema Ukraine zu erpressen, um Geld zu bekommen.

Asselborn:Wir haben im Dezember 2020 gesagt, dass kein Transfer von europäischen öffentlichen Geldern in Länder gehen darf, die die Rechtsstaatlichkeit nicht respektieren, die die Unabhängigkeit der Justiz nicht respektieren, wie das ja nicht nur in Ungarn war, sondern auch in Polen. Als ich 2004 Außenminister wurde, hätte ich mir nie gedacht, dass wir mit diesem Hebel agieren müssen. Aber das war das einzige Mittel, und ich hoffe, ich hoffe, dass die Kommission stur bleibt bei der Rechtsstaatlichkeit.

STANDARD: Außenpolitisch steht die EU vor den größten Herausforderungen seit der Gründung ...

Asselborn: Wir müssen wissen, die EU hat nicht die militärische Macht, in der Ukraine oder im Nahostkonflikt einzuwirken, um das zu beenden. Allerdings haben wir innenpolitische Einwirkungsmöglichkeiten, wenn wir mit einer Stimme sprechen. Wir haben das zum großen Teil fertiggebracht mit Russland und der Ukraine. Wir haben es aber nicht fertiggebracht, was Israel und Palästina angeht. Wir haben die Zweistaatenlösung nicht auf die Tagesordnung gesetzt. Gäbe es die, gäbe es keine Hamas.

STANDARD: In etlichen Staaten gewinnen rechte Parteien an Boden, die gewiss keine Proeuropäer sind. Wo geht die Entwicklung hin, und wie kann man sie umkehren?

Asselborn: Also pessimistisch, fatalistisch darf man nicht sein. Ich glaube also, diese Parteien werden im Europaparlament nie eine Mehrheit haben. Aber sie können, wenn wir nicht aufpassen, blockieren, sie können eine große Zahl von Abgeordneten haben, die blockieren können. Es könnte also sein, dass Parteien, die wir immer als klassische Konservative betrachtet haben, sich von den Aussagen der rechten Parteien angezogen fühlen. Wir können das nur bekämpfen, indem wir den Menschen in Europa sagen, dass man um die Demokratie immer kämpfen muss. Diese Werteunion muss verteidigt werden, mit allen Mitteln. Im Interesse unserer Kinder, die nicht im Illiberalismus leben wollen.

STANDARD: Thema EU-Erweiterung. Wie steht es mit dem Westbalkan?

Asselborn: Es gibt große Probleme mit Serbien, das ist aber das Herzstück des Balkans. Serbien ist derzeit nicht beitrittsreif. Aber ich bin überzeugt, dass man den Serben sagen muss, eure Zukunft ist nicht irgendwo im Osten, in Moskau, sondern in Brüssel. Es ist aber unser Garten Europa, und wir haben dafür zu sorgen, den Ländern zu helfen, dass sie den Weg zu uns finden.

STANDARD: Die Ukraine soll EU-Mitglied werden. Da gibt es Skepsis.

Asselborn: Es war eine politische Entscheidung, dass man sagt, es war ja im Sommer letzten Jahres, wir tun alles, damit die Ukraine Mitglied werden kann. Jetzt sind wir beim Kandidatenstatus, und es ist eine erste Evaluation gemacht worden. Meines Erachtens wird es auch noch eine zweite geben, vielleicht auch eine dritte. Wir müssen wissen, dass das politische Entscheidungen sind und keine buchhalterischen. Also arbeiten wir am Inhalt intensiv weiter.

STANDARD: Thema Migration. Sie scheinen die Migration als eine unabänderliche Tatsache zu sehen, an die wir uns einfach gewöhnen müssen.

Asselborn:Ich sage nicht: ungehemmte Migration. Ich sage zuerst, Migration wird bleiben. Auch in den nächsten 20, 30 Jahren. Also müssen wir eine europäische Lösung finden. Die haben wir nicht. Wir hatten einen guten Ansatz 2015, als wir die Relokation (Umverteilung der Flüchtlinge, Anm.) beschlossen haben. Aber die Kommission hat nicht durchgegriffen.

STANDARD: Aber da war noch etwas ...

Asselborn: Ja. Die österreichische EU-Präsidentschaft 2018. Auf Drängen vom damaligen Kanzler Sebastian Kurz wurde im Europäischen Rat entschieden, dass diese Solidarität bei der Verteilung der Flüchtlinge nicht mehr obligatorisch ist, sondern freiwillig. Damit war alles kaputt. Der dritte Punkt ist: Solange wir im Süden der EU Länder haben, in denen viele Migranten ankommen, so lange werden diese Länder durchwinken. Das verstehe ich sogar. Die Konsequenz ist aber, dass es wieder Grenzkontrollen gibt, und das macht die Errungenschaft Schengen kaputt.

STANDARD: Jedenfalls ist die Migration der Hauptgrund für den beängstigenden Rechtsruck in Europa.

Asselborn: Ich habe zum heutigen österreichischen Kanzler Karl Nehammer, als er noch Innenminister war, gesagt, ich verstehe, ihr habt zu viele Flüchtlinge. Aber lasst doch zu, dass wir eine europäische Lösung finden. Aber einfach Nein sagen geht auch nicht. Das Schlimmste war, als wir geredet haben über Schengen. Die Blockade von Schengen für Rumänien und Bulgarien durch Österreich hat überhaupt keinen Link mit der Migration. Das ist rein österreichische Innenpolitik. Und wenn österreichische Innenpolitik ein Veto dieser Art in Europa auslösen kann, dann sage ich, dann haben die Verantwortlichen in Österreich Europa nicht verstanden. (Hans Rauscher, 6.12.2023)