Bei der Kritik kam der Film zwar nicht allzu gut weg. Doch zumindest die US-Kinokassen brachte Ridley Scotts Schlachten- und Liebesscharmützel "Napoleon" in den ersten Tagen nach der Premiere zum Klingeln. Trotz der 158 Minuten (Apple+ wird in seiner Fassung noch knapp eine Stunde drauflegen) blieben im Historiendrama einige Aspekte im Leben des Feldherrn und Kaisers ausgespart – wie etwa Napoleons Talent für die Mathematik und seine (angebliche) Liebe für die Naturwissenschaften.

Wie weit seine Begabung tatsächlich ging, darüber streiten sich die Geister. Faktum ist, dass es einen Satz von Napoleon gibt, der wahlweise auch Napoleons Theorem genannt wird oder Napoleon-Dreieck. Der Satz ist nicht allzu kompliziert und lautet wie folgt: Zeichnet man über den Seiten eines beliebigen Dreiecks (unten in der Grafik pink, aufgespannt durch A, B und C) jeweils ein gleichseitiges Dreieck nach außen, so bilden die geometrischen Schwerpunkte der drei Dreiecke wieder ein gleichseitiges Dreieck (halbtransparent):

Napoleon-Dreieck
Das Napoleon-Dreieck
DERSTANDARD/Grafik

Der Schnittpunkt der Geraden durch die drei Schwerpunkte und die jeweils gegenüberliegenden Ecken des Ausgangsdreiecks (also durch A und X, B und Y und C und Z), wird als "erster Napoleon-Punkt" bezeichnet. Wenn man die drei gleichseitigen Dreiecke auf dem pinken Ausgangsdreieck nach innen anstatt nach außen konstruiert, schneiden sich die Geraden, die durch die jeweiligen Schwerpunkte und die gegenüberliegenden Ecken des Ausgangsdreiecks gezogen werden, im "zweiten Napoleon-Punkt".

Kind mit Mathe-Talent

Bleibt die Frage, ob es denkbar ist, dass der "Satz von Napoleon" tatsächlich vom Feldherrn und Zweispitzträger stammte, der mit geschätzten 168 cm für damalige Verhältnisse übrigens gar nicht so klein war, sondern eher dem damaligen französischen Durchschnitt entsprach. Seine mathematischen Leistungen als Kind sprechen jedenfalls nicht gegen die mögliche Urheberschaft: Allem Anschein nach war Napoleon als KInd mathematisch begabt – jedenfalls sehr viel talentierter als in den Sprachen.

Wegen seiner mathematischen Fähigkeiten habe man dem Teenager eine Laufbahn als Marineoffizier nahegelegt, woraus aber nichts wurde. Er landete schließlich bei der Artillerie, wo man mathematische Kenntnisse ebenfalls gut brauchen konnte. An der École militaire hat dem Sechzehnjährigen kein Geringerer als der große Mathematiker, Astronom und Physiker Pierre-Simon Laplace das Examen abgenommen. Das blieb nicht unbedankt: Als Napoleon 1799 an die Macht kam, ernannte er den damals größten Mathematiker des Landes zum Innenminister.

Napoleon Bonaparte
Napoleon – hier mit seinem Zweispitz – hatte immer wieder mit Mathematikern zu tun. Aber war er auch selbst einer?
IMAGO/Cola Images

Die politische Begabung von Laplace hielt sich allerdings in Grenzen: Schon nach sechs Wochen wurde er durch einen Bruder Napoleons ersetzt. Zum Trost machte ihn Napoleon einige Jahre später zum Mitglied des relativ einflusslosen Senats; Laplace wurde zudem dessen Vizepräsident, was ziemlich lukrativ war. Der Mathematiker verdiente mit all seinen Ämtern rund das 20-Fache von Carl Friedrich Gauß, dem er mathematisch nicht ganz das Wasser reichen konnte.

Erstpublikation 1825

Wohl auch wegen dieser engen Bekanntschaft mit Laplace gilt Napoleon zumindest seinen Anhängern als Förderer der Mathematik und der Wissenschaften ganz allgemein. Bemerkenswert ist auch, dass sich im Tross seines Ägypten-Feldzugs zwischen 1798 und 1801 nicht weniger als 150 Forscher befanden, darunter Gaspard Monge, der Vater der Differenzialgeometrie. Aber zurück zur Gretchenfrage: Ist es denkbar, dass sich Napoleon über Mathematiker-Bekanntschaften und militärische Berechnungen hinaus selbst als Mathematiker betätigt hat?

Zum Essen und Schlafen nahm er sich bekanntermaßen kaum Zeit. Blieben davon ein paar Stunden für die elementare Geometrie? Und könnte es sein, dass er das Napoleon-Dreieck und die beiden Punkte selbst gefunden hat? Dagegen spricht, dass der geometrische Satz erst vier Jahre nach dem Tod Napoleons zum ersten Mal – und noch dazu in der Frauenzeitschrift "The Ladies' Diary" – auftauchte: Der britische Mathematiker William Rutherford stellte ihn darin 1826 vor.

Napoleons Theorem
Erstpublikation des Napoleon-Dreiecks (ohne es freilich so zu nennen).
Wikimedia / gemeinfrei

Eine Verbindung mit Napoleon wird erst 42 Jahre später erstmals hergestellt, konkret in "Chalmers’ Encyclopedia" unter dem Stichwort "Triangle", wie die FAZ recherchiert hat. Zu einer bleibenden Verbindung zwischen Napoleon und dem Dreieck kam es aber offenbar erst 1911 durch das Lehrbuch "Elementi di Geometria" des italienischen Mathematikers Aureliano Faifofer. In der posthum erschienenen 17. Auflage wurde eingefügt, dass Napoleon seinen Lehrsatz dem großen intalienischen Mathematiker und Astronomen Joseph-Louis Lagrange zum Beweis vorgelegt habe.

Metternichs Zweifel

Das Problem dieser Behauptung: Bis heute hat sich kein Beleg dafür gefunden. Dennoch hat sich Napoleon als Namensgeber für das Dreieck und die Punkte durchgesetzt. Falls er sie doch entdeckt hat, so war er vermutlich nicht der Erste. Fachleute halten es für möglich, dass der Satz von Napoleons auch schon einigen alten Griechen bekannt war. Doch auch dafür fehlt der Nachweis.

Hält man sich an kritische Zeitgenossen, die den Kaiser der Franzosen kannten, dann scheint die Zuschreibung aber fragwürdig. So etwa meinte Fürst Metternich in seiner Denkschrift "über den Charakter und die Eigenheiten Napoleons", dass dieser "kein Mann der Wissenschaft" gewesen sei. "Seine Verehrer suchten die Meinung zu verbreiten, als sei er ein tüchtiger, ein gelehrter Mathematiker gewesen. Seine mathematischen Kenntnisse erhoben ihn nicht über das, was jeder geschulte Artillerie-Offizier wissen muss; aber seine natürlichen Anlagen ersetzten ihm oft den Mangel an Wissen."

Nachsatz zum Satz

Sprachspielerisches Postskriptum: Sollte Napoleon doch hinter dem nach ihm benannten Satz stecken, stellt sich die Frage, wann er seinen geometrischen Heureka-Moment hatte. Ereignete sich der womöglich während des selbst gewählten zehnmonatigen Exils auf der Insel Elba 1814/15, als er Muße dafür gehabt hätte? Dagegen spricht, dass der "Zeuge" Lagrange bereits 1813 starb – sowie das berühmte Napoleon-Palindrom "Able was I ere I saw Elba" (also: Fähig war ich, ehe ich Elba sah). Doch auch darauf sollten wir uns nicht verlassen. Denn mit ziemlicher Sicherheit stammt dieser von hinten nach vorne lesbare Satz ebenfalls nicht von Napoleon, der – siehe oben – wenig sprachenbegabt war. (tasch, 13.12.2023)