Junger Mann mit Proteinshake in der Hand
Die Extraportion Eiweiß soll Muskeln wachsen lassen, Hunger zügeln und ganz generell für eine bessere Performance sorgen. Was ist wirklich dran an dieser Erzählung?
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Wer abnehmen will, setzt häufig auf Low Carb, also wenig Kohlenhydrate, dafür viel Protein. Im Supermarkt gibt es eigene Regale mit allen möglichen Proteinprodukten, vom Frischkäse über Kakaomilch bis hin zu speziellen Kraftriegeln. Im Fitnesscenter gehört für viele der Proteinshake nach dem Pumpen fast schon automatisch dazu – sonst können ja die Muskeln nicht wachsen. Und Nahrungsergänzungsmittel mit speziellen Aminosäuren – den Bausteinen der Proteine – sind ziemlich angesagt.

Viele Menschen greifen zu diesen Produkten, oft sogar um viel Geld. Denn Proteine, so die weitverbreitete und gut etablierte Annahme, sind gut für uns. Und mittlerweile ist immer öfter zu hören und zu lesen, wir hätten zu wenig von diesem Makronährstoff – sogar so wenig, dass die Gesundheit gefährdet sei, wird oft suggeriert.

Tatsächlich gehören Proteine zu den Hauptnährstoffen in unserer Nahrung, weiß die Ernährungswissenschafterin Ursula Pabst, sie haben eine Reihe von wichtigen Funktionen in unserem Körper. "Die Muskeln sind der größte Eiweißspeicher im Körper, aber auch alle Zellen bestehen unter anderem aus eiweißhaltigen Stoffen." Auch das Immunsystem braucht Eiweiß, einige Hormone werden daraus hergestellt, zudem dient Eiweiß als Transport- und Struktursubstanz für Knochen, Bindegewebe und Haut. Und nicht zuletzt kann Eiweiß als Energiequelle genutzt werden – auch wenn Fett und Kohlenhydrate wesentlich effizienter Energie bereitstellen.

Man sieht also, Eiweiß erfüllt viele lebensnotwendige Aufgaben. Kommt daher der Mythos des angeblichen Mangels? Bekommen wir tatsächlich zu wenig Eiweiß? Oder ist alles nur geschicktes Marketing von Firmen, um viel Geld zu verdienen?

"Weiße Weste" des Eiweißes

"Eiweiß ist der einzige der drei Makronährstoffe, der noch keinen gesundheitsapostolischen Imageschaden erlitten hat, im Gegensatz zu Fetten und zu Kohlenhydraten, die regelrecht als das Böse auf den Tellern verteufelt werden", sagt der Ernährungswissenschaftler Uwe Knop. "Daher kommt die weiße Weste der Proteine."

Ernährungswissenschafterin Pabst sieht es ähnlich: "Gerade in der Fitness- und Wellnesskultur weist man oft auf die Bedeutung der Proteine für den Muskelaufbau und die Gesundheit hin. Dadurch entsteht ein gesteigertes Bewusstsein für die Proteinzufuhr, und es erweckt auch den Anschein, dass wir generell zu wenig Eiweiß aufnehmen." Eiweiß bekommen dadurch quasi ein grünes Mascherl, und das bestärke die Annahme, dass Eiweiß ungefährlich und unlimitiert aufgenommen werden könne.

"Das alles wird begleitet von geschicktem Suggestivmarketing, das an Gesundheitsbewusste und Ernährungssensible adressiert ist. Und das wirkt, viele zahlen dann für diese vermeintlich gesundheitsfördernden Lebensmittel einen viel zu hohen Preis", ärgert sich Knop über diesen Trend und stellt klar: "Am kolportierten Zusatznutzen solcher Produkte ist nichts dran."

Ganz ähnlich ordnet Kurt Widhalm, Präsident des österreichischen akademischen Instituts für Ernährungsmedizin, die Erzählung vom Eiweißmangel ein. Er verbannt sie ins Reich der Märchen: "Bei einem Mythos steckt wenigstens eine Geschichte dahinter. Aber das ist einfach eine eklatante Falschinformation."

Warum das falsch ist, lässt sich auch ganz einfach zeigen: Der Proteinbedarf eines gesunden Erwachsenen liegt bei etwa 0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht, Schwangere und Stillende, Jugendliche im Wachstum oder Menschen, die viel Sport machen, können etwas mehr brauchen. Aber nie mehr als 1,2 Gramm Eiweiß pro Kilo Körpergewicht.

Der tatsächliche Konsum dürfte deutlich darüber liegen, bei etwa 1,5 bis zwei Gramm pro Kilogramm Körpergewicht, führt Widhalm aus. Diese Zahlen ergeben sich aus Schätzungen auf Basis von Ernährungsprotokollen. Der Mediziner betont aber: "Die Überversorgung ist allein schon durch den Fleischkonsum dokumentiert, der in Österreich rund 62 Kilogramm pro Kopf beträgt. Ein durchschnittlicher gesunder Mensch mit vorwiegend sitzender Tätigkeit, der moderat Sport macht, hat definitiv keinen Eiweißmangel."

Möglicher Mangel

Widhalm spricht hier vom durchschnittlichen Menschen. Es gibt aber Bevölkerungsgruppen, die tatsächlich oft unter einem Proteinmangel leiden: ältere und kranke Menschen. Genau die werden aber mit der Werbung für Eiweißprodukte nicht angesprochen. "Wir haben Untersuchungen in Altersheimen durchgeführt, es ist fast schon erschreckend, wie viele alte Menschen einen Proteinmangel haben", berichtet Widhalm. Die Gründe dafür: Bei ihnen ist oft das Geschmacksempfinden reduziert, sie haben keine Appetit oder sie können nicht mehr so gut essen, weil sie etwa Gebissschwierigkeiten haben. Das betreffe übrigens nicht nur die ganz Betagten, es beginne schon ab einem Alter von 65 Jahren.

Eine weitere Gruppe, die zu wenig Eiweiß haben kann, sind kranke Menschen, etwa nach einer Operation oder wenn sie sich gerade einer Chemotherapie unterziehen müssen. Auch nach einer schweren Infektion, nach einer Antibiotikatherapie oder nach einer Magenoperation komme man leicht in einen Mangel. Hier werde aber oft zu wenig hingeschaut.

So einen Mangel dürfe man nämlich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn Proteine sind für eine ganze Reihe von Stoffwechselvorgängen notwendig. Ist nicht ausreichend von ihnen vorhanden, holt sie sich der Körper aus der Muskulatur. "Das ist aber vor allem bei alten und kranken Menschen, bei denen die Muskulatur ohnehin schon stark abnimmt, ein Problem." Außerdem leidet das Immunsystem unter Eiweißmangel, weil die Entzündungsfaktoren ansteigen und es leichter zu Infektionen kommen kann.

Eiweiß nach dem Training?

Man müsse jetzt aber keine Angst haben, dass man als normal gesunder Mensch gleich an Muskelmasse verliert, nur weil man einmal nach dem Training nicht so viel Protein gegessen hat, entkräftet Ernährungswissenschafterin Pabst eine häufige Erzählung: "Es ist eine sehr vereinfachte Vorstellung, dass sich der Körper nach dem Training das Eiweiß aus den Muskeln holt. Es kommt zwar während des Trainings zu Mikroverletzungen an den Muskeln, diese werden aber nach dem Training mit Aminosäuren aus dem Vorratspool des Körper repariert, das führt sogar zum erwünschten Muskelaufbau." Solange regelmäßig ausreichend proteinhaltige Lebensmittel gegessen werden, kann sich der Körper aber immer an den nötigen Eiweißbausteinen bedienen, um die Muskeln bestmöglich regenerieren zu lassen.

Ob man nach dem Training gleich etwas Eiweißhaltiges essen soll, wie es oft angeregt wird, hängt davon ab, was man erreichen möchte, sagt die Expertin: "Wer abnehmen möchte, sollte den Nachbrenneffekt nutzen und den Körper nicht sofort wieder mit Energie versorgen. Wer Muskeln aufbauen möchte, sollte den ganzen Tag über ausgewogen essen. Dazu gehört auch, dass man ausreichend Eiweiß aus unterschiedlichen Quellen aufnimmt. Und ja, es bringt etwas, die Energiespeicher nach dem Training wieder aufzufüllen, da die Muskeln dann besonders aufnahmebereit sind."

Dann sei es aber absolut sinnvoll, auch auf grünes, also pflanzliches Eiweiß zu setzen. Nicht nur in Fleisch und Milchprodukten, auch in pflanzlichen Nahrungsmittel wie Soja, Hülsenfrüchten, Vollkornprodukten und Nüssen stecken genau die essenziellen Aminosäuren, die der Körper braucht und die er nicht selbst herstellen kann.

Im Überfluss langfristig schlecht

Und man sollte definitiv nicht einfach ohne Hinterfragen viel Eiweiß essen. Denn ein Zuviel an Proteinen ist genau so schlecht wie zu wenig – und die Wahrscheinlichkeit, dass man zu viel isst, ist definitiv größer, als dass man zu wenig hat.

Ist man überversorgt, muss der Körper das nicht benötigte Eiweiß nämlich wieder loswerden. Der Abbau strapaziert aber die Nierenfunktion sehr stark, außerdem kann es zu Einlagerungen in den Arterien kommen. Das fördert dann Arteriosklerose und kann auch zu anderen degenerativen Erkrankungen führen, die lebensverkürzend sind. "Natürlich passiert das nicht von heute auf morgen, akut entstehen dadurch keine Probleme", weiß Ernährungsmediziner Widhalm. "Aber langfristig ist eine erhöhte Proteinzufuhr alles andere als ungefährlich. Das fördert Lifestyleerkrankungen wie Gefäßverengung, neurologische Probleme und sogar Demenz."

Dass sie ausreichend mit Eiweiß versorgt sind, gilt übrigens auch für die meisten, die im Fitnessstudio auf ordentlich Krafttraining setzen. Besondere Aufmerksamkeit auf das Thema ist nur bei wirklichen Spitzensportlern nötig, sie brauchen tatsächlich mehr Eiweiß, aber auch mehr Vitamine und Spurenelemente. "Die sind im Normalfall aber gut betreut, und da wird auch auf die optimale Ernährung geachtet", weiß Widhalm.

Zusätzliches Eiweiß schaufeln?

Supplemente, sagt der Experte, seien in den allermeisten Fällen nicht nötig. Sie warnt sogar vor unspezifischer Substitution ohne fachliche Unterstützung: "Supplemente nehmen meist die Falschen. Junge Leute, die Sport machen, brauchen sie nämlich in den allermeisten Fällen nicht. Der Proteinmangel ist in Bezug auf sie nur findiges Marketing."

Das zeigt auch so manches Beispiel aus seiner Praxis: "Es ist schon öfter vorgekommen, dass sich Patientinnen oder Patienten selbst einen Eiweißmangel diagnostiziert haben." Macht er dann eine ausführliche Diagnostik mit umfassendem Blutbild, stellt sich aber oft heraus, dass es sich in Wirklichkeit um einen Transferrinmangel handelt, also dass die Person zu wenig Eisen hat, oder dass Mikronährstoffe und Vitamine fehlen. "Deshalb ist eine gute Diagnostik so wichtig. Bevor man irgendetwas substituiert, sollte man immer prüfen, was wirklich nötig ist."

Warum werden dann aber so viele Supplemente angeboten? Das argumentiert Michael Wäger, Biochemiker und Leiter des Wissenschaftsteams beim Nahrungsergänzungsmittelhersteller Biogena, damit, dass in der Wissenschaft ein Wechsel von Quantität zu Qualität stattgefunden habe. Für eine Studie etwa, die im Fachjournal "Cell Metabolism" publiziert wurde, hat man das optimale Aminosäurenprofil untersucht, um eine möglichst gute Proteinqualität zu erreichen. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO hat eine Art Referenzprotein definiert, das eine ideale Zusammensetzung der Aminosäuren hat. Das ist nicht ein Protein an sich, sondern ein bestimmtes Verhältnis an Aminosäuren, die für eine ideale biologische Verwertbarkeit sorgen.

"Nimmt man Proteine über die Nahrung auf, hat man zwar ein buntes Potpourri an Aminosäuren, aber man kann sich nicht sicher sein, ob das auch die wünschenswerten sind. Eine natürliche Zufuhr, die dem Referenzprotein entspricht, ist faktisch nicht möglich", sagt Wäger. An dieser idealen Zusammensetzung orientiere man sich auch für die eigenen Produkte. Solche Produkte seien vor allem wichtig für Menschen in Rekonvaleszenz, bei Muskelabbau und Appetitlosigkeit im Alter oder aufgrund von Krankheit wie etwa Tumoren oder auch bei proteinarmer Ernährung, weil die Nierenfunktion eingeschränkt ist.

Werbeschmäh Protein

Bleiben noch die speziellen Protein-Produkte, wie sie im Supermarkt angeboten werden. Was steckt da dahinter? Die seien ein reiner Verkaufsschmäh, da sind sich alle Experten einig. Und wenn man genauer hinschaut, sieht man das auch, das hat vor ein paar Monaten eine Untersuchung des Vereins für Konsumenteninformation (VKI) gezeigt. Dafür hat man zahlreiche Lebensmittel, die überdeutlich mit Begriffen wie "Eiweiß", "High Protein" und einem Bezug zu Fitness vermarktet wurden, untersucht. Dazu zählen unter anderem verschiedene Milchprodukte, deren pflanzliche Alternativen, aber auch Süßigkeiten und Knabbereien. Auch Eiweißbrot oder High-Protein-Eis locken mit dem "gesunden" Plus an Eiweiß für sportlich aktive Menschen.

Der VKI hat stichprobenartig Produkte verschiedener Lebensmittelkategorien überprüft und als proteinreich ausgewiesene Produkte mit einem herkömmlichen Pendant verglichen. Die wichtigste Erkenntnis: Tatsächlich höher war der Preis. Protein dagegen war nicht zwingend mehr in der als Proteinbombe ausgewiesenen Variante. Der "NÖM Pro Cottage Cheese" etwa ist um 55 Prozent teurer als der "Cottage Cheese Schnittlauch" von Milfina. Er enthält aber weniger Eiweiß als das Vergleichsprodukt (11,8 g versus 13 g pro 100 g). Ähnliches gilt für den Schnittkäse "Mini Babybel High Protein". Er ist um 46 Prozent teurer als der "Milfina Goudina in Scheiben". Der Eiweißgehalt ist aber niedriger (25 g versus 30 g pro 100 g). Auch die Milchalternative "Joya & Dream Mandel Protein" enthält trotz Sojabohnen-Zusatzes weniger Protein als der reguläre "Sojadrink Natur" von Alnatura (3,2 g versus 3,6 g pro 100 ml).

Jede Menge Zusatzstoffe

Auch die häufig kolportierte Unterstützung beim Gewichtsverlust sei nicht nachvollziehbar, zeigt der VKI-Test. Denn tatsächlich haben Eiweißprodukte oft mehr Kalorien als ihre Pendants. Das "Spar Natur pur Bio-Eiweißbrot" etwa enthält zwar mehr Eiweiß als das "Spar Natur pur Bio-Roggen-Vollkornbrot". Es hat aber auch mehr Kalorien, nämlich 208 kcal versus 188 kcal pro 100 g. Das Eiweißbrot enthält zudem mehr Fett (6,1 g versus 1,1 g pro 100 g). Auch das "Billa Protein Naturjoghurt" enthält mehr Kalorien als beispielsweise das "Clever Joghurt Natur 0,1%" (51 kcal versus 40 kcal pro 100 g).

High-Protein-Produkte können darüber hinaus auch deutlich mehr Zucker enthalten als Vergleichsprodukte. Ebenso ist die Menge an zugesetzten Süßungsmitteln und anderen Zusatzstoffen oft beträchtlich. Das High-Protein-Eis "Frozen Power Salted Caramel" etwa enthält insgesamt 14 Zusatzstoffe und Aromen, fünf davon sind unterschiedliche Süßungsmittel. Der Proteinriegel "Foodspring Soft Caramel" weist sieben Zusatzstoffe auf, darunter zwei Süßungsmittel. Auch Aromen werden mehrmals in der Zutatenliste genannt. (Pia Kruckenhauser, 16.12.2023)