Viktor Orbán bastelte seit Wochen an einem großen Plan. Beim EU-Gipfel zum Jahresausklang wollte er die Vertreter der 26 Partnerstaaten mit Vetoblockaden so brutal vor sich hertreiben wie nie zuvor. Vor allem auf Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission hat es der ungarische Ministerpräsident abgesehen.

Video: Donald Tusk als polnischer Ministerpräsident vereidigt.
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Aber nicht nur deswegen erwog der dem russischen Präsidenten Wladimir Putin trotz EU-Sanktionen herzlich zugeneigte Orbán den Aufstand.

Auch der Vorschlag der Kommission, mit der Ukraine 2024 formell Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, geht ihm gegen den Strich. Doch Mittwochabend konnte Orbán einen Zwischenerfolg verbuchen: Die EU-Kommission gab "nach reiflicher Prüfung" 10,2 Milliarden Euro an Fördergeldern für Ungarn frei. Budapest habe Bedingungen in Sachen Justizreform erfüllt. Weitere Milliarden bleiben zwar auf Eis, doch Brüssel hofft, Budapest so zur Kooperation in Sachen Ukraine zu bewegen. Andernfalls überlege man, so Budgetkommissar Johannes Hahn, Ungarn mittels zwischenstaatlicher Abkommen zu umgehen.

Neben der Ukraine stehen weitere gewichtige Themen zur Entscheidung an. Zum einen soll das mehrjährige EU-Budget einer Revision unterzogen und eine kräftige Aufstockung beschlossen werden. Nach den Vorstellungen der Kommission braucht die Union bis 2028 insgesamt 64 Milliarden Euro zusätzlich: 50 Milliarden allein zur Unterstützung der Ukraine. 14 Milliarden plus sollen vor allem in die Migrations- und Asylpolitik investiert werden, sprich für einen stärken Schutz der EU-Außengrenzen und Asylverfahren in Drittstaaten.

Donald Tusk vor blauem Hintergrund mit der Flagge der EU.
Mit Donald Tusk kehrte ein großer EU-Freund zurück auf den Posten des polnischen Premiers.
AP/Virginia Mayo

Zankapfel Migration

Die Migration, ein breites Reformpaket, über das seit Jahren verhandelt wurde und das nun beschlussfähig wäre, steht ebenfalls auf dem Programm. Es soll zu einer gerechteren Lastenverteilung bei Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen zwischen den EU-Staaten führen. "Alles hängt bei diesen Themen mit allem zusammen", beschreibt ein Diplomat im Vorfeld die Ausgangslage. Für Orbán ergäben sich hervorragende Möglichkeiten zur Obstruktion.

Die Beratungen der Staats- und Regierungschefs der EU begannen wegen der umfangreichen Agenda bereits Mittwochabend mit einem Treffen mit den Chefs der beitrittswilligen Staaten des Westbalkans. Sie warten zum Teil seit mittlerweile Jahrzehnten, dass endlich etwas weitergehe. Nun sollten aber auch Georgien und Bosnien-Herzegowina einen Kandidatenstatus bekommen, wie ihn die Ukraine und die Republik Moldau bereits haben. Österreich macht sich beim Gipfel gemeinsam mit acht anderen Staaten für den Westbalkan stark: Die Priorität für die Ukraine, die Wien auch unterstützt, dürfe nicht dazu führen, dass die Balkanstaaten zu Kandidaten "zweiter Klasse" werden, hielt Bundeskanzler Karl Nehammer fest.

Auch Orbán wirft sich für die Länder des Westbalkans in die Bresche. Auch auf diesem Gebiet wollte er versuchen, möglichst gegen die EU-Beitrittsperspektive der Ukraine Stimmung zu machen. Ob ihm das alles gelingt, ob tatsächlich Orbán tagelang im Zentrum aller Aufmerksamkeit stehen wird, wie er es gerne hat, wird sich aber erst zeigen. Denn er hatte die Rechnung ohne den Wirt, sprich: ohne Donald Tusk gemacht.

Frischer Wind aus Polen

Zufall oder nicht, der neue polnische Premierminister stahl seinem ungarischen Kollegen jedenfalls gleich zu Beginn die Show. Er reiste nur wenige Stunden nach seiner Vereidigung durch den Staatspräsidenten in die EU-Hauptstadt und brachte ein Paket mit, das im Vergleich zu Orbán viel Substanz in Sachen gemeinsame europäische Politik beinhaltet. Nach dem Sturz der EU-skeptischen nationalkonservativen PiS-Regierung will Tusk mit seiner Regierung nun einen radikalen Kurswechsel hinlegen. So wie zu Zeiten des EU-Beitritts tritt er für ein starkes gemeinsames Europa ein, in dem Polen neben Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien eine prominente Führungsrolle einnehmen soll, kündigte der neue Premier an. Nebenbei legte er ein klares Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft mit den USA ab.

Danebengelegt erschien Orbáns Agenda plötzlich etwas klein. Kein Wunder, dass die Sympathie der meisten Regierungschefs aufseiten Tusks zu finden war. "Orbán ist sehr allein, isoliert", quittierte ein Diplomat trocken. Dass es ausgerechnet Tusk ist, der Orbán im Europäischen Rat in den Schatten stellt, dürfte die ungarische Regierung besonders schmerzen. Zum einen verlor sie mit der PiS-Regierung ihren bisher wichtigsten Unterstützer auf EU-Ebene. Zum anderen ist Tusk ein ganz spezielles Feindbild für Orbán.

Der liberale Tusk war ab 2007 schon einmal Polens Premierminister. 2014 wurde er Ständiger Präsident des Europäischen Rates, also der "Chef der Chefs". In dieser Funktion war er ein scharfer Kritiker des antieuropäischen Kurses von Orbán. Unter ihm wurde ein Stimmrechtsentzugsverfahren für Ungarn nach Artikel 7 der EU-Verträge erwogen. Nach seinem Ausscheiden aus diesem Amt wurde Tusk Präsident der Europäischen Volkspartei (EVP), der Dachpartei der europäischen Christdemokraten. Während dieser Zeit wurde Orbáns Fidesz-Partei aus der EVP rausgeworfen.

Orbán schielt auf EU-Töpfe

Abgesehen von solchen persönlichen Scharmützeln und politischen Gegensätzen dürften die Entscheidungen am Ende aber am Geld hängen. Geben und Nehmen. Nicht wenige Diplomaten glauben, dass Orbán am Ende einlenken werde, so wie er es in den vergangenen Jahren immer gemacht hat, wenn er große Geldsummen aus EU-Töpfen herausschlagen kann. Konkret könnte die EU-Kommission bis zu zehn Milliarden Euro aus eingefrorenen Töpfen freimachen, wenn Ungarn sich zu entsprechenden Justizreformen durchringt. Beim Gipfel wird es einen Bericht von Experten dazu geben. Orbáns Zorn könnte dann rasch verflogen sein. Die gute Frage ist, ob Tusk bei seinem ersten EU-Gipfel als neuer polnischer Premier einem solchen Milliardendeal zustimmen möchte. (Thomas Mayer aus Brüssel, 14.12.2023)