Die Healthy Boy Band (Lukas Mraz, Philip Rachinger und Felix Schellhorn) haben ausgerechnet einen professionellen Rezepte-Schreiber darum gebeten, ihnen eine Geschichte übers Kochen ohne Rezept zu schreiben. Ich weiß nicht, ob sie mich damit ärgern wollten, im Endeffekt aber haben sie mir damit einen großen Gefallen getan.

Vor dieser Geschichte hätte ich nämlich gesagt: Ich mag Rezepte nicht besonders. Ich schreibe sie zwar, weil Menschen sie haben wollen und ich damit einen Teil meines Geldes verdiene – aber ich tue es oft nicht gern. Jetzt, wo diese Geschichte fertig ist, bin ich versöhnter mit diesem Teil meines Berufs.

Mein Rezept-Misstrauen ist schnell erklärt: Keine Pflanze und kein Tier gleicht dem anderen, kein Ofen produziert genau die gleiche Hitze, Pfannen werden nicht ident schnell heiß, und selbst Luftfeuchtigkeit und Raumtemperatur haben einen Einfluss auf heikle Dinge wie Teige. Es braucht daher immer die wache Köchin, den wachen Koch, der/die schaut, fühlt, riecht, hört und schmeckt.

Kochen – und das ist das Wunderbare daran – ist immer ein sinnliches Erlebnis. Ein Rezept ohne Mensch ergibt Kantinenessen und Dosenfraß – und nicht einmal die kommen ganz ohne menschliche Korrektur aus.

Der Trend ohne

Ich bin mit diesem Unwohlbefinden nicht allein. Es ist gerade ein bisserl schick, ohne Rezept zu kochen. Es klingt nach Großmutter statt Großküche, nach Jazz statt Klassik und nach Wissen, das so tief sitzt, dass es in die Fingerspitzen übergegangen ist. Auch am Kochbuchmarkt macht sich das bemerkbar: Vergangenes Jahr haben mit Dave Chang (Cooking at Home – How I stopped worrying about recipes and learned to love my microwave) und Sam Sifton von der "New York Times" (No recipe recipes) zwei ganz Große der Branche Bücher ohne klassische Rezepte herausgebracht.

Dabei ist es ein wenig albern, von "Kochen ohne Rezept" zu sprechen oder zu schreiben. Komplett ohne Rezept kocht so gut wie niemand, nie. Jedem Gericht liegt ein gewisser Bauplan, eine Idee, zugrunde, die wir im Kopf haben, bevor wir mit der Zubereitung beginnen, und so gut wie immer ist diese Idee nicht unsere eigene. Wer einmal im Leben etwas wirklich Neues kocht, hat wahrlich Großes geleistet. Das Misstrauen richtet sich, glaube ich, daher nicht gegen das Rezept an sich, sondern gegen eine bestimmte Form.

Grobe Anleitung

Es gibt zwei Arten von Rezepten: die grobe Anleitung und die exakte Formel. Die erste Art, die grobe Anleitung, ist eine kurze Erzählung: eine Nennung der wichtigsten Zutaten und knappen Hinweisen, wie diese miteinander zu kombinieren und zu garen sind. Sie ist wahrscheinlich so alt wie die menschliche Sprache und sicher so alt wie die Schrift: Auf den über 4.000 Jahre alten babylonischen Keilschrift-Tafeln stehen zahlreiche Rezepte, etwa für geschmortes Lamm oder gefüllte Weinblätter.

Die alten Griechen kannten das erzählende Rezept und schafften es wie in der Philosophie auch hier, vor über 2.000 Jahren ewige Wahrheiten festzuhalten. "Keinen Käse, keinen Blödsinn", rät Archestratus, der älteste überlieferte Kulinarikautor der Welt, um 400 v. Christus zur Zubereitung eines Bonito. "Wickle ihn in Feigenblätter mit ein wenig Majoran, schiebe ihn in heiße Asche und besinne dich der Zeit, die er braucht".1

Bis heute ist das erzählende und erzählte Rezept die mit Abstand häufigste Art: Es wird immer schon zwischen Freunden ausgetauscht, von Großmüttern und Müttern an Enkelinnen und seit kurzem auch an Enkel weitergegeben. Auch wird es in professionellen Küchen rund um die Welt verwendet, in denen die Familie und keine Angestellten kochen.

Die wahrscheinlich besten Gerichte werden nach ihm gekocht, von den verklärten kulinarischen Erinnerungen unserer Kindheit bis hin zu zeitgenössischen Ikonen wie dem Gulasch im Anzengruber in Wien oder Sodomas Grammelknödel in Tulln. Im allerbesten Fall ist es nicht nur praktische Kochanleitung, sondern Literatur. "Ich kenne niemanden in den USA, der bessere Prosa schreibt", hat der Dichter W.H. Auden einmal über die Kulinarik- und Kochbuchautorin M. F. K. Fisher gesagt. Mir fehlt die Übersicht, um ihm guten Gewissens recht zu geben, aber auch ich finde ihre Texte wunderschön.

Entsprechend gibt es kaum jemanden, der diese Art von Rezept nicht mag. Das Misstrauen richtet sich eher gegen die zweite Form, mit genauen Mengen- und Zeitangaben und exakt beschriebenen Handgriffen.

Wie es zur genauen Angabe kam

Sie ist wahrscheinlich noch keine 200 Jahre alt. Sie ist ein Verwandter des medizinisch-pharmazeutischen Rezepts2, der Zauberformel und der Alchemie. Sie sagt ihren LeserInnen aufs Gramm und den Milliliter genau, welche Zutaten sie nehmen sollen und wie lange sie bei welcher Temperatur zu garen haben. Nach Jahrzehnten des Booms ist es nun gerade diese Form des Rezepts, mit der ich und viele andere ein wenig fremdeln.

Es entsteht, wenn ich das richtig überblicke, ab der Mitte des 19. Jahrhundert in England und wird im frühen 20. Jahrhundert so richtig populär. Es taucht zunächst in Hausfrauenliteratur auf, das erste Mal wahrscheinlich in "Modern Cookery for Private Families", das 1845 in England erscheint und ein Bestseller wird, etwas später dann in "Mrs. Beeton's Book of Household Management", das immer noch als die Großmutter des modernen Laien-Kochbuchs gilt.

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Genauere Rezeptangaben haben sich im 19. Jahrhundert etabliert.
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Warum gerade dann und da? Hier ein paar Vermutungen:

Die Dienstboten verschwinden in dieser Zeit langsam. Gebildete Mittelklassehausfrauen, sind plötzlich in der bisher völlig unbekannten Lage, selbst kochen zu müssen – und haben es nie gelernt. In England beginnt das früher als anderswo, was vielleicht mit ein Grund ist, dass das exakte Rezept gerade hier entsteht.3

Köchinnen (es sind außerhalb von professionellen Restaurants so gut wie immer Frauen) werden zunehmend in Kochschulen ausgebildet, die Lehrbücher verkaufen wollen, und nicht in einem Meisterin-Schülerin-Verhältnis, in dem Rezepte mündlich weitergegeben werden.

Zucker wird dank der Entwicklung des Rübenzuckers plötzlich unverschämt günstig, was das Backen für die breite Masse möglich macht – und Gebackenes, vor allem Patisserie, sind jene Speisen, die am allermeisten von genauen Rezepten profitieren (wieder beginnt das in England früher, die Zuckerpreise sind hier durch Kolonien und Sklavenarbeit schon länger niedriger als auf dem Kontinent).

Kochen wird international

Viel später, ungefähr ab den 1960er-Jahren, erlebt das Kochbuch mit genauen Rezepten noch einmal einen ordentlichen Schub: Statt immer die gleichen Gerichte zu kochen, essen und kochen wir plötzlich italienisch, chinesisch, indisch, und mittlerweile ist der Markt so fragmentiert, dass es Kochbücher mit burmesischen Currys und über einzelne chinesische Provinzen gibt. Über diese Küchen wissen diejenigen, die sie nachkochen wollen, anfangs gar nichts – ein möglichst genaues Rezept ist daher essenziell.4

Abgesehen von diesen spezifischen Gründen: Das genaue Rezept ist auch ein sehr typisches Kind seiner Zeit. Im 19. Jahrhundert nimmt die industrielle Produktion so richtig Fahrt auf, die Idee der genauen Reproduzierbarkeit wird populär, die Welt standardisiert sich. Und wie so viele Ideen, die im 19. Jahrhundert entstehen, hat auch das genaue Rezept mit Massen zu tun. Es hat einen industriellen Charakter.5

Je größer die gekochten Mengen sind, desto besser funktioniert es: Wenn statt zwei Zwiebeln 1.000 verwendet werden und statt einem Stück Bauchfleisch die Bäuche von 100 Schweinen, dann fallen die kleinen Unterschiede zwischen den Zutaten immer weniger ins Gewicht – der Durchschnitt, nicht der Ausreißer bestimmt.

Ich glaube, das ist mit ein Grund, warum das genaue Rezept bei manchen Menschen gerade keinen so guten Ruf hat: 'Es wird den Stechuhrklang und Verdacht der Gleichschaltung nie ganz los.6

Bitte nicht wortwörtlich

Dabei hat es durchaus Vorteile. Im Restaurant (gerade im sehr guten!) wird das genaue Rezept gebraucht, sobald es kein Familienbetrieb mehr ist. Wo viele verschiedene Menschen oft nur kurz arbeiten, helfen sie, die seltenste und schwierigste Restaurant-Tugend zu garantieren: Beständigkeit. Die ausführliche, sehr genaue Rezeptdatenbank, die etwa das Steirereck pflegt, hat sicher zum langjährigen Erfolg des Restaurants beigetragen.

Und Heimköche? Müssen die sich von diesen genauen Mengenangaben terrorisieren, von exakten Zeiten und Temperaturen den Spaß verderben lassen? Natürlich nicht. Bei allem Respekt vor dem gedruckten Wort und der gedruckten Zahl steht es jedem frei, sie zu ignorieren. Für Rezepte gilt außerhalb der Industrieküche das Gleiche wie für die Bibel oder den Koran: Nur die völlig Orientierungslosen nehmen sie wortwörtlich.

All die Mengen- und Zeitangaben stehen da für die, die wirklich noch nie gekocht haben und einmal an der Hand genommen werden wollen – wer nicht will, der muss sie nicht lesen. Das genaue Rezept ist damit auch ein inklusives, antielitäres, das kein Geheimwissen voraussetzt. Das ist die andere, die schöne Seite vieler Entwicklungen des 19. Jahrhunderts – und eine, die es wert ist, sich als Kochbuchautor und Rezepteschreiber gelegentlich ein wenig zu plagen.

1 Ich habe es schon mehrmals zitiert, aber weil es mir so gut gefällt, hier nochmals Archestratus Rezept für Wildhasen (in der englischen Übersetzung von John Wilkins): "The best way is to bring the meat roasted to each guest during the drinking. It should be hot, simply sprinkled with salt, and taken from the spit while it is still a little undercooked. Do not let it distress you to see the divine ichor dripping from the meat, but eat it greedily. All other methods are mere sidelines to my mind, thick sauces poured over, cheese melted over, too much oil over – as if they were preparing a tasty dish of dogfish."

2 Schon lange vor dem genauen Rezept waren Kochbücher immer auch medizinische Bücher und Ratgeber, und sie sind es oft bis heute. Die Kochbuch-Bestsellerlisten werden verlässlich angeführt von Titeln wie "Abnehmen mit Smoothies", "Low Carb Cooking" oder "Genuss trotz Unverträglichkeiten".

3 Ich bin mir nicht sicher, ob auch das moderne Restaurant mit seiner fixen Speisekarte und festen Essenszeiten seinen Teil dazu beigetragen hat. Es entsteht im frühen 19. Jahrhundert in Frankreich und breitet sich dann in Europa aus. Berühmte Köche sind schnell fleißige Kochbuchschreiber, aber auf die Idee, genaue Rezepte zu schreiben, scheinen sie trotzdem lange nicht gekommen zu sein.

4 Wahrscheinlich hat das auch mit dem Konzept der "Authentizität" zu tun, deren Vertreter uns einreden wollen, es gäbe die eine, wahre Form eines Gerichts, aber das ist eine andere Geschichte.

5 Es gibt schon lange vor dem 19. Jahrhundert Großküchen, etwa in Klöstern und bei Hof und anderen adeligen Haushalten, und wenig überraschend entstehen auch hier die ersten Kochbücher. Der Unterschied ist aber, dass niemand von einem Bankettessen erwartet, dass es immer gleich schmeckt, von einem Dosengulasch schon.

6 Autoritäre Regime sind entsprechend oft große Kantinenfans. Bei einem Besuch in Zlín in der Slowakei erzählte uns unser Architektur-Führer von einigen großen, unter den Kommunisten errichteten Wohnbauten in der Stadt, in denen es keine Küchen in den Wohnungen gab, stattdessen eine große Gemeinschaftskantine im Erdgeschoß. Der Versuch wurde bald wieder eingestellt und die Wohnungen nachgerüstet. (Tobias Müller, 7.1.2024)